Widder (Stefan Heilemann) - Zürich
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Wie im Rausch
Manche Tage scheinen auf den ersten Blick nur zum Vergessen geboren. Unsere Fotografin ist bereits seit einigen Tagen krank. Just zu der Zeit, als endlich mal wieder ein offizieller Besuch bei Stefan Heilemann auf dem Programm steht. Da kann man nichts machen, ausser den Abend alleine im Widder verbringen. Sofern man es überhaupt dorthin schafft. Denn der Winter zeigt sich von seiner schönsten, aber verkehrstechnisch unerbittlichsten Seite. Alles ist in weiss gehüllt. Autos schlittern nur noch auf den komplett zugedeckten und zugefroreren Strassen umher. Mein Bus kommt nicht. Nach langen Minuten des Wartens an der Haltestelle läuft eine Frau an mir vorbei und teilt mir mit: "Der Bus kommt den Berg nicht hoch. Du wartest umsonst." Das Abendessen abzusagen ist keine Option, also mache ich mich mit meinen schweren Winterstiefeln zielstrebig auf den Weg. Es sind zwar nur acht Kilometer, aber bei diesem Wetter könnte es ein lustiger Spaziergang werden.
Die leise Hoffnung, dass sich die Lage beruhigt und sich doch noch ein helfender Bus oder ein Tram meiner und der vielen anderen Menschen im Feierabendverkehr erbarmt, schwindet mit jedem Halt und jedem zaghaften Blick zurück in die weisse Leere. Es hilft nichts, ich laufe weiter. Gut eineinhalb Stunden später komme ich tatsächlich im Restaurant an, sehe dabei aber wohl aus wie ein Yeti. Heilemann kann sich einen herzhaften Lacher nicht verkneifen. Zurecht. Schnell alles ablegen, an den Chef’s Table setzen und einrichten. Sommelière Laura Frömel steht flugs mit einer einer Flasche Krug Grande Cuvée 172ème Edition am Tisch. Langsam setzt eine gewisse Ruhe ein und die Wärme kehrt in meinen Körper zurück. Hoffentlich kann auf diesen zum Vergessen geborenen Tag noch ein unvergesslicher Abend folgen.
Direkt mit dem Auftakt überrascht mich die Küche mit etwas, das ich nicht mehr für möglich gehalten hätte: neue Amuse-Bouches! Gemäss meiner kurzen Fotorecherche bekomme ich gerade zum ersten Mal seit sechs Jahren nicht das Trio von der französischen Label Rouge Ente serviert. Nein, heute steht das Rind des hauseigenen Château De Raymontpierre im Fokus: Links im Körbchen liegt zwar der scheinbar altbekannte Bun, gefüllt ist er allerdings mit einem Gulasch. Obenauf liegen etwas Kraut und Zwiebeln. Rechts oben auf dem Teller ist ein Taco, die Schale hergestellt aus der frittierten Achillessehne des Rinds, gefüllt mit einem Tatar und Heilemann-typisch erfrischend thailändisch abgeschmeckt. Unten etwas eingerolltes Trockenfleisch, gefüllt mit Entenleber. Diese drei neuen Kreationen müssen sich hinter dem längst zum Klassiker avancierten Enten-Trio nicht verstecken. Der Chef setzt aber trotz den auch hier verarbeiteten Thai-Aromen mehr auf mitteleuropäische Geschmacksbilder mit Kraut, Senf und Co. Auch diese Klaviatur spielt er meisterhaft. Vor allem die gesetzten Kontrapunkte von einlullend-festlicher Üppigkeit und strammer Frische sind einfach nur grossartig.
Bei der Gillardeau Auster mit Sauce Béarnaise und Prunier Oscietra Kaviar präsentiert der Chef dieselben Hauptzutaten in unterschiedlichen Gewändern, einmal kalt und einmal warm. In der Austernschale befindet sich ein sanft pochiertes Stück der Molluske mit einem Hauch Kräuteröl, garniert mit Kaviar und einem luftigen Béarnaise-Schaum. Austern von Gillardeau zeichnen sich gemeinhin durch ihre Fleischigkeit aus. Diese wird durch das Pochieren und den warmen, opulenten, dabei dennoch federleichten Schaum zusätzlich akzentuiert. Ohne dabei die maritim-jodige Salinität zu überlagern. Im Teller wird ein gänzlich anderer Fokus gelegt. Man meint förmlich, die Gischt im Gesicht zu spüren. Alles wirkt sehr kühl und klar, bei aller Üppigkeit präzise wie ein Hattori-Hanzo-Schwert und unheimlich dicht. Gemeinsam ist beiden Zubereitungen, dass der Säureregler ordentlich aufgedreht ist, was immer für die richtige Balance sorgt und eine gewisse Leichtigkeit suggeriert.
Makrele von der Algarve, grüne Olive, Mandel und Pimientos macht nicht nur optisch den Anschein, als ob der Fisch unter seinen potenten Mitstreitern begraben wird. Doch dem ist nicht so. Trotz der intensiven Geschmäcker - die herbe Bitterkeit, die pointierte Herzhaftigkeit mit ihrer wohldosierten Schärfe, die Jodigkeit, diese gewisse Deftigkeit, die der Makrele anhaftet - potenzieren sich diese nicht, sondern sind eng miteinander verwoben. Ich bin überrascht, wie feingliedrig und fast schon zart dieses Ensemble daherkommt. Auffallend ist die höchst akkurate Justierung der Proportionen (entgegen des ersten optischen Eindrucks) sowie die superbe Qualiät des Fischs. Wichtig ist in diesem Fall die richtige Temperierung, nicht zu kalt, damit er sein gesamtes Geschmacksspektrum entfalten kann, und die Textur, die dadurch etwas "buttriger" wird. Am Gaumen wird das Fleisch von den eiskalten Sphären kontrastiert, um dann zu einem Kosmos von überwältigender Intensität zu verschmelzen.
Zu diesem Zeitpunkt im Menü steigt in mir erstmals das Gefühl hoch, dass der heutige Abend ein ganz besonderer werden könnte. Ich habe schon viele denkwürdige Menüs von Stefan Heilemann genossen, doch gerade fühlt es sich so an, als ob irgendeine Sternenkonstellation heute besonders günstig steht.
Weiter geht’s mit einer Petitesse, die es in sich hat. Auf einem rund ausgestochenen Stück French Toast liegt etwas Aioli. Darauf kommt eine grosszügige Portion kanadische Seeigel, die schliesslich mit einer Nocke Prunier Oscietra Kaviar und etwas Schnittlauch belegt ist. Ganz kurz überlege ich, ob ich von diesem doch substanziellen Happen abbeissen soll, entscheide mich dann aber, das Ganze auf einmal zu essen. Das Erlebnis ist überwältigend. Im bestmöglichen Sinn. Für einen kurzen Moment werden gefühlt alle meine Rezeptoren gleichzeitig geflutet, was mich unweigerlich die Augen schliessen lässt. Vor meinem inneren Auge zucken in Nanosekunden Bilder durch, die sich nur oberflächlich in Worte fassen lassen. Meer. Welle. Salz. Luxus. Wonne. Glück. Und doch ist dieser Happen so viel mehr als die Summe der eben geschilderten einzelnen Wahrnehmungen. So viel mehr. Wow!
Nun folgt der altbekannte Balfego Thunfisch mit Gamba Blanca, Dill, Rettich und Prunier Oscietra Superior Kaviar. Eigentlich immer ein Höhepunkt eines jeden Menüs im Widder. Dass man hieran noch etwas verbessern könnte, schien mir eigentlich unmöglich. Bis jetzt. Selbst dieses Meisterwerk ist heute noch eindrucksvoller als je zuvor. Und es ist beileibe nicht so, dass ich heute besonders empfänglich wäre und nach dem langen Fussmarsch über jeden Teller noch glücklicher als sonst. Die kleinen, aber feinen Unterschiede lassen sich ganz klar benennen. Die Gambas waren noch nie von so herausragender Qualität. Der Dill ist etwas zurückhaltender und dadurch besser ins Gesamtkonstrukt eingewoben. Die subtile Schärfe des Rettichs ist noch pointierter dosiert, wirkt dadurch noch belebender und gleichzeitig harmonisch kontrastierend. Ein Monument von einer Kreation. Ob es beim nächsten Besuch noch besser wird? Eigentlich möchte ich es bezweifeln, aber inzwischen sollte mich bei dieser Küchenmannschaft nichts mehr überraschen.
Auf nach wie vor ähnlich hohem Niveau bewegt sich der blaue Hummer aus Frankreich mit Kürbis, gelbem Thaicurry und Kaffir Limette, ist aber nicht mehr ganz so aufwühlend. Während das Thaicurry seit Jahren fester Bestandteil der hiesigen Menüs ist, habe ich es, glaube ich, bisher noch nicht mit Hummer gegessen. Selbstredend ist der Edelkrebs auf den Punkt gegart, am optimalen Schnittpunkt zwischen Saftigkeit und Biss. Auch hier ist das Drumherum noch einmal spürbar über der gewohnt enorm hohen Qualität. Die Schärfe besser eingebunden, die Süsse durch den Kürbis etwas präsenter - was dem Hummer in die Karten spielt -, die Säure und der betörende Duft der Zitrusfrüchte legen sich wie sanft vorwärtsdrängende Schleier über jeden Bissen. An diesem Teller gibt es nichts zu bemängeln. Und auch nichts zu verbessern. Ich präferiere zwar die Version mit Kaisergranat, aber das ist wirklich ausschließlich eine Frage des persönlichen Geschmacks.
Weiter geht’s mit einem Klassiker der luxuriösen Wohlfühlküche: Eigelb vom Schlattgut Herrliberg, weisser Trüffel, Steinpilz, Nussbutter. Dass ein schlotziges Eigelb mit exzellenten weissen Trüffeln aus Alba, die beim Hobeln den ganzen Tisch mit ihrem ätherischen Aroma einnebeln, ein "Match made in Heaven" ist, muss hier nicht weiter ausgeführt werden. Wohl aber, wie man aus diesem grandiosen Duo noch mehr herauskitzeln kann. Da wäre zum einen die Nussbutter, die sowohl das Ei als auch die Trüffel akzentuiert und für zusätzliche opulente Mundfülle sorgt. Butter macht eben alles besser, wie man so schön sagt. Darüber hinaus spielen die kleinen Steinpilze eine wichtige Rolle, steigern sie doch das Umami und bringen mit ihrem leicht elastischen Biss ebenso texturelle Abwechslung ins Spiel wie ein paar Kartoffelchips. Um dem Gericht eine bodenständige Struktur zu verleihen, findet sich unter dem Trüffelregen zusätzlich etwas Kartoffelpüree. Zu guter Letzt unterstreicht fein dosierter Schnittlauch den angedeuteten rustikalen Charakter dieses Gerichts. Liest oder hört man die Zutaten, denkt man an schwere Kost. Doch es ist alles andere als das. Opulent, ja, aber dennoch ausgesprochen ausbalanciert und elegant. Auch hier ist das Feintuning perfekt. Besser kann man ein solches Gericht weder konzipieren noch umsetzen.
Vor dem Hauptgang wird ein Überraschungsgang in Form einer Suppe serviert. Genauer gesagt handelt es sich um eine Wildessenz. Darin schwimmen Innereien vom jungen Reh aus Tiroler Jagd sowie Entenleber Ravioli. Der Duft, der mir in die Nase steigt, euphorisiert mich bereits vor dem ersten Löffel. Der erste Schluck dieses dampfend heissen Elixiers wirkt auf mich vollkommen berauschend, so dass ich unkontrollierbare Töne purer Freude von mir gebe. Getragen von einer prächtigen Noblesse zeigt diese Essenz, die ihren Namen auch wirklich verdient, eine enorme Tiefe und ewig anhaltende Länge am Gaumen. Ganz grossem Wein ähnlich. Selbstredend sind die Einlagen nicht nur schnödes Beiwerk, sondern bringen ein willkommenes Mass an Reichhaltigkeit und Struktur ins Spiel. Ein unfassbarer Genuss, nahe an der Ekstase.
Nach den Innereien kommt nun der edle Rücken des Rehs aus aus Tiroler Jagd auf den Tisch. Kombiniert mit Cassis, Entenleber und Rande. Während die süsssäuerliche Beerenfrucht naturgemäss vortrefflich zum Wild passt und für Balance sorgt, nimmt die Rande deren Süsse auf und ergänzt sie um einen bodenständigen Unterbau. Ein Teil der Knolle kommt geräuchert zum Einsatz, was dem Gemüse eine gewisse Speckigkeit verleiht. Die passt zwar grundsätzlich sehr gut hier rein und betont die Bodenständigkeit, wird aber je nach Gabelbelegung für meinen Geschmack einen Hauch zu dominant. Wir sprechen hier von Nuancen auf der allerhöchsten Stufe, die nicht wirklich störend sind, aber in meinen Augen die absolute Perfektion verhindern.
Nach der bisherigen Tour de Force bin ich äusserst gespannt, ob sich auch André Siedls Desserts in ungeahnte Höhen aufschwingen. Los geht’s mit Boskoop Apfel, Zitrone, Sauerrahm und Blätterteig. Hierbei handelt es sich in seiner Essenz um eine Interpretation der altehrwürdigen Tarte Tatin. Herrlich frisch und leichtfüssig ist das. Geprägt vom vollmundigen, säuerlichen Apfel, der dank ganz sanfter Bittertöne, die für mich essenziell für eine Tarte Tatin sind, zusätzlich an Komplexität gewinnt. Die Einfassung spielt gekonnt die gesamte Dessertklaviatur, setzt knusprige Akzente sowie kühle Kontrapunkte, unterstützt die Cremigkeit und reizt das Säurespiel aus. Fantastisch!
Bei den im Sommer eingemachten Sauerkirschen mit Kokosnuss, Pandan und Jasminblüte ist vor allem die letzte Komponente durchaus gewagt. Jasminblüte wird oftmals als zu parfümiert und plakativ wahrgenommen. Auch hier spielt sie eindeutig eine Hauptrolle. Dabei überlagert sie jedoch nicht die einzelnen Bissen, sondern trägt sie vielmehr. Auch wenn Kokosnuss und Pandan eher in Südostasien verortet werden, weckt die Blüte des wunderschönen Ölbaumgewächses doch Erinnerungen an chinesischen Tee oder einen blühenden Garten. Diese sind eingewoben in die nussige, wärmende Exotik. Fest in der Mitte eingebettet ist die strammsaure Reminiszenz an den Sommer durch die Kirschen. Wow, einfach nur wow.
Der süsse Ausklang umfasst: Canelé, Tonkabohne, Passionsfrucht - Pistazie, Nougat, Jostabeere - "André's Bananasplit". Obwohl mich heute Abend nichts mehr überraschen sollte, wundere ich mich noch über mich selbst. Denn so gut hat mir der Bananasplit von André Siedl noch nie geschmeckt. Auch wenn diese Kleinigkeit ohnehin schon eine der weltweit an einer Hand abzählbaren Kreationen ist, bei der ich einer Banane wenigstens ein bisschen Genuss abgewinnen kann.
Stefan Heilemanns Küche hat mir schon so manch erinnerungswürdigen Abend beschert. Doch so stringent komponiert, so souverän und makellos umgesetzt wie heute war ein Menü im Widder noch nie. Und das will was heissen. Scheinbar mühelos schüttelt das eingespielte Küchenteam ein Highlight nach dem anderen aus dem Ärmel, so dass die Superlative nur so sprudeln. Höchste handwerkliche Präzision. Perfekte Akkuratesse beim Abschmecken. Die Stellschrauben, an denen man noch drehen kann, sind langsam aber sicher ausgereizt. Objektiv ist nicht mehr viel zu verbessern (höchstens die etwas zu speckige Rauchnote im Hauptgang). Auch subjektiv kann ich höchstens noch marginale Punkte anbringen. Zum Beispiel, dass mir das gelbe Curry mit Kaisergranat besser schmeckt als mit Hummer. Aber das ist natürlich kein wirklicher Kritikpunkt, sondern nur eine persönliche Vorliebe. Denn viel näher kann man der Perfektion kaum kommen.
Immer noch wie im Rausch verabschiede ich mich in das weiter anhaltende Schneegestöber und hoffe, dass ich nicht den gleichen Fussmarsch nach Hause zurücklegen muss. Der Gedanke an den ungemütlichen Heimweg ist schnell verdrängt, als mir bewusst wird: Ein Tag zum Vergessen? Au contraire. Ein Abend für die Ewigkeit.
Die Weinbegleitung von Laura Frömel:
Grande Cuvée 172ème Edition, Krug, Champagne
Pinot Blanc 2023, Eichholz Irene Grünenfelder, Bündner Herrschaft
Trenzado 2022, Suertes del marqués, Teneriffa
Bricco del Bosco Riserva Vigne Vecchie 2019, Azienda Agricola Accornero, Piemont
Spätburgunder "R" 2020, Ökonomierat Rebholz
Bonneau 2018, Château Closiot, Barsac
Late Bottled Vintage Port 2018, Taylor’s, Douro
Chardonnay Santa Maria Valley 2021, Brvghelli, Central Coast
Restaurant Widder
Rennweg 7
8001 Zürich
Schweiz
+41 44 224 25 26
Tisch reservieren - Restaurant Widder
Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Informationen zu unserem Umgang mit Pressekonditionen findest du in den FAQ.
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