Widder (Stefan Heilemann) - Zürich
Widder (Stefan Heilemann) - Zürich
In Sichtweite des Gipfels
Seitdem Stefan Heilemann mit seiner Mannschaft das Restaurant Widder in der Zürcher Innenstadt bespielt, ist nochmals ein Ruck durch ihn und seine Kreationen gegangen. Er hat einerseits alle Scheuklappen abgelegt und kocht kompromisslos nur noch haargenau so, wie er es für richtig hält. Andererseits ist, vor allem was das Abschmecken betrifft, seine Strum und Drang Phase vorbei. Bei aller für den Chef typischen Kraft und Intensität nimmt zusehends auch die Harmonie eine immer gewichtigere Rolle ein. Dies äussert sich darin, dass die Gerichte immer feiner ausbalanciert daherkommen. Man könnte es auch das Streben nach Perfektion nennen. Allerdings - und glücklicherweise - ohne darüber seine Grundwerte und die DNA der eigenen Küche zu verkennen.
Mein letzter Bericht liegt zwar bereits zwei Jahre zurück, allerdings war ich zwischenzeitlich einige Male im Widder und konnte bei jedem einzelnen Essen eine weitere merkliche Verfeinerung der Küche ausmachen. Bei meiner letzten Stippvisite (ohne Bericht) waren auch erstmals mehrere waschechte Drei-Sterne-Teller dabei. Dass Heilemann unaufhaltsam in Richtung des kulinarischen Olymps drängt, ist seit langem klar. Deshalb bin ich voller freudiger Neugier, ob der Pfeil mittlerweile noch klarer in Richtung drei Macarons ausschlägt.
Ich kehre heute zum ersten Mal zum Mittagessen ins Widder ein und sitze auch erstmals im eigentlichen Restaurant (am Tisch im Erker auf dem Bild oben). Ein Doppelnovum also. Meine Laune ist blendend, die des Service um Gastgeber und Sommelier Stefano Petta ebenso. Mit einem Glas 7 Crus von Agrapart & Fils ist die Eröffnung des Lunchs schon mal stimmig .
Den Dreiklang der französischen Freilandente: Bao Bun - Entenleber - knusprige Haut kann man getrost als Klassiker aus Heilemanns Küche titulieren. Steht seit Jahren auf der Karte und wird dabei nie langweilig, da der Chef der Perfektion jedes Mal ein Stückchen näher rückt. Geschmacklich war dieses Trio noch nie so gut und vor allen Dingen so elegant abgeschmeckt wie heute. Nur der Bun war schon mal einen kleinen Hauch luftiger. Aber das dürften nur Gäste bemerken, die diesen Auftakt in- und auswendig kennen.
Gamba Blanca aus Portugal, Rettich und Dill lässt die Befürchtung aufkommen, dass die zart-süssen Garnelen mitsamt ihrem blauschwarz schimmernden Kaviar obenauf durch die Kraft des Rettichs und des Dills übertüncht werden. Doch gerade die Kombination mit der pikant-grünen Herbheit des Krauts entpuppt sich als absoluter Volltreffer. Gemeinsam mit der subtilen, an Senf erinnernden Schärfe des Rettichs ergibt das ein enorm feinsinniges und geradezu delikates Ganzes, das berührt. Wow.
Einer der eingangs erwähnten lupenreinen Drei-Sterne-Teller bei meiner letzten Stippvisite war der Balfegó Thunfisch, Passionsfrucht, Oscietra Kaviar und Süsskartoffel. Ob sich dieser Eindruck heute verfestigt? Um es kurz zu machen: das tut er. Angefangen bei den grandiosen Produktqualitäten, über die ungewöhnliche wie stimmige Komposition sowie das Heilemann-typsiche mutige Abschmecken mit reichlich pointierter Fruchtsäure. Hier findet, wie bereits erwähnt, seit einiger Zeit auch der markanteste, spürbare Wandel in Heilemanns Küche statt. Seine Teller sind immer noch kraftvoll, wuchtig und intensiv. Allerdings scheint er eine gewisse Ruhe gefunden zu haben, die sich in einem letzten Quäntchen Raffinesse niederschlägt. Dies ermöglicht ihm, in höchste kulinarische Sphären vorzudringen, ohne die Integrität seines Stils zu verbiegen oder gar über Bord zu werfen. Ganz grosses Kino.
Langoustine, gelbes Thai Curry, Butternut Kürbis und Kaffirlimette steht in der einen oder anderen Form auch bereits länger auf der Karte. Auffallend bei dieser Iteration ist die zarte Beschaffenheit des Kaisergranats, der wie gedämpft wirkt, aber dennoch einen gewissen Biss behält. Der Chef ist der Meinung, dass der Krebs so sowohl geschmacklich als auch texturell seine beste Seite zeigt. Dem kann man zustimmen, muss man aber nicht. Allerdings wird es bei diesem herrlich würzigen Gericht, bei dem der Edelkrebs trotz potenter Begleitung stets im Mittelpunkt steht, schwer ein gewichtiges Gegenargument zu finden. Sofern man das denn überhaupt möchte. Es wäre allerdings schade, wenn man sich nicht ausschliesslich auf dieses tolle Produkt und die exzellente, Thai-inspirierte Einfassung fokussieren würde. Schliesslich gibt es in diesem Spektrum von süss über salzig, von sauer bis umami so viel zu entdecken. Was diesen Gang den letzten Kick gibt, ist die frisch geriebene Limonenzeste. Ihre ätherisch-exotischen Zitrusnoten und die herbe Frische runden diesen Gang optimal ab.
Es wird deftiger. Das liegt beim Carabinero mit Artischocke, Salzzitrone und Kapern einerseits an der enorm wuchtigen, ungeschminkt wachrüttelnden bittersauren Begleitung des abermals umwerfenden Meeresbewohners. Andererseits am ultraknusprigen Knoblibrot. Knoblauch ist in der gehobenen Küche oftmals verpönt, vor allem, wenn er plakativ zur Schau gestellt wird und die Macht des Ganges an sich zu reissen droht. Aber auch hier zeigt sich wieder Heilemanns kontinuierlicher Wandel. Die getoasteten Baguettescheiben sind für sich genommen viel zu viel. Wie sie allerdings den Hauptteller vortrefflich komplementieren und diesem sowieso bereits grandiosen Ensemble das letzte gewisse Etwas verleihen, ist erneut sehr beeindruckend. In seiner nur vordergründig unbekümmerten Lässigkeit wieder verdammt stark.
Richtig funky wird’s bei der Algarve Rotbarbe mit Tintenfisch, Fenchel, Schwarzwurst und Ducca. Die Funkiness entsteht durch den wilden Mix aus orientalischer Würze, mitteleuropäischer Wurst, südeuropäischem Seafood und etwas, was man gemeinhin als sehr deutsch sieht: Sauerkraut. Das Kraut ist in diesem Fall allerdings kein Kohl, sondern der Fenchel. Ein cleverer Kniff, da sich der Fenchel als verbindendes Element zwischen den kulinarischen Kulturen zeigt. Man könnte vermuten, dass der Chef hier bewusst ein wenig provozieren möchte (was er bei einigen Gästen sicherlich auch schafft) und die Dinge zu stark forciert. Doch weit gefehlt. Dieser Gang ist zwar durchaus anspruchsvoll und eigen, aber ungeheuer schmackhaft und reiht sich direkt in die mittlerweile ziemlich lange Liste von grandiosen Rotbarbe-Kreationen aus der Widder Küche ein.
Beim Hauptgang Tiroler Reh, Rande, Cassis und Entenleber zeigen sich die klassisch französischen Wurzeln Heilemanns am deutlichsten. Wer nun denkt, dass hier die “rotes Fleisch mit braune Sauce” Langeweile herrscht, der täuscht sich. Gewaltig sogar. Natürlich ist das superbe Wild punktgenau gegart und besticht mit seinem zarten, eleganten aber dennoch kernigen Geschmack. Mit Sicherheit das eleganteste Fleisch der Wildsaison. Dem wird die erdig-süssliche Bete sowie eine angenehm bescheiden portionierte Scheibe Foie zur Seite gestellt. Die Foie gibt auch der Sauce ihren opulenten und betörenden Schmelz, die zusätzlich mit einer bestechenden Tiefe aufzuwarten weiss. Besonders imponierend ist die Tatsache, dass ihr dennoch eine gewisse Leichtigkeit und Frische innewohnt. Was zu guter Letzt sicher auch auf den punktgenau dosierten Einsatz des Cassis zurückzuführen ist, der mit seiner herben Säure immer wieder auflockernde Spitzen einstreut. Einfach grossartig.
Auch Pâtissier André Siedl zeigt sich heute in Hochform, was bereits der Honig “Terreni Alla Maggia” mit Aprikose, Sauerampfer und Ingwer unterstreicht. Honig als tragendes Element benötigt unbedingt einen dynamischen Gegenpol. Ein Umstand, dem Siedl Rechnung trägt, indem er eine fein abgestimmte Melange aus üppiger Steinobstfrucht, herb-säuerlichem Grün und einer belebenden Schärfe kreiert. Dieses Konstrukt konterkariert den sehr leckeren Honig mit seiner dumpfen Zuckrigkeit prima, wodurch ein eher leises und vorzügliches Gesamtbild entsteht
Noch eine ganze Ecke besser sind die eingemachten Sauerkirschen mit Kokosnuss, japanischer Kirschblütenessig und Mandelmilch. Generell ist auch das hier eher ein Leisetreter. Das Süss-Sauer-Spiel der Weichseln zeigt eine superbe Grundbalance, die nussigen Töne von Kokos und Mandel sind auch keine Lautschläger, sondern fügen sich vortrefflich mit den anderen Aromaten zusammen. Getragen wird alles von einer nuancierten Säure. In Summe ergibt sich daraus ein behutsam verwobenes, delikates, äusserst geschmackvolles Ganzes. Ich würde so gerne eine zweite Portion davon bestellen, bin aber leider pappsatt.
Die Grossartigkeit endet mit dem süssen Ausklang: Canelé, Tonkabohne, Passionsfrucht - Crèmeschnitte, Himbeere, Blätterteig - "André’s Bananasplit". Sogar dem Bananensplit kann ich als bekennender Verächter dieser Frucht etwas abgewinnen. Das sagt wohl alles.
Was für ein Mittag, was für ein Menü! Der Chef hat seine Kreationen im Widder gefestigt, durch diese Kohärenz unverkennbar zu seinem ureigenen Stil gefunden und kocht mittlerweile eine unverkennbare Autorenküche, die es so kein zweites Mal gibt.
Ich hatte vor einigen Jahren, als Heilemann noch im Ecco kochte, in einem Artikel folgendes geschrieben: “Die heutige Küchenleistung lässt nur ein Fazit zu: man steuert im Ecco ganz klar darauf zu, allerhöchste kulinarische Weihen zu erreichen. Das wird vielleicht nicht heute und morgen passieren, die Chancen stehen in meinen Augen allerdings sehr gut, dass dieses Ziel in absehbarer Zeit erreicht werden kann.“ Die absehbare Zeit ist gekommen. Wenn sich die Entwicklung so rasant fortsetzt wie seit dem Umzug ins Widder, rücken die drei Sterne bald in greifbare Nähe. Das haben die vergangenen zwei Jahre und das heutige Essen zementiert.
Essen bei Stefan Heilemann gehört in schöner Regelmässigkeit zu den Höhepunkten im kulinarischen Kalender. Denn heute kochen Heilemann und sein Team so gut wie noch nie, aber noch nicht ganz so gut wie morgen.
Die Weinbegleitung von Stefano Petta:
7 Crus Brut, Agrapart & Fils, Champagne, Frankreich
Grand’ Cour Blanc 2021, Jean-Pierre Pellegrin, Genève, Schweiz
Hermannsberg GG 2018, Gut Hermannsberg, Nahe, Deutschland
Zegla 2014, Renato Keber, Friaul, Italien
Gevrey-Chambertin 2017, Pierre Damoy, Burgung, Frankreich
Distenta 2019, Sine Qua Non, Kalifornien, USA
Berncasteler Doctor Riesling Spätlese 2020, Wwe. Dr. H. Thanisch, Mosel-Saar-Ruwer, Deutschland
Grain Noble Petite Arvine 2019, Marie-Thérèse Chappaz, Wallis, Schweiz
Restaurant Widder
Rennweg 7
8001 Zürich
Schweiz
+41 44 224 25 26
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