Regina Montium (Benedikt Voss) - Rigi Kaltbad

Die Königin der Berge ruft

Dichter Nebel. Nieselregen, der wie ein vergilbter Vorhang vor den Augen schwebt. Unangenehm kalte Temperaturen im tiefen einstelligen Bereich. Alle Menschen, an denen ich vorbeikomme, sind dick eingepackt und laufen mit heruntergezogenen Mundwinkeln durch die Strassen. Wer kann es ihnen verdenken. Die Welt um mich herum scheint so grau zu sein, wie Sherlock Holmes London beschreibt. Nur ganz ohne die Mystik. Hoffnung auf Besserung ist zumindest für mich in Sicht. Nachdem ich das Auto in Vitznau parkiert habe, setzte ich im mich in die Zahnradbahn gen Rigi. Mein Ziel ist das Kräuterhotel Edelweiss, oder genauer gesagt, das besternte Regina Montium, das es beherbergt. Und tatsächlich, nach wenigen Minuten Fahrt erfüllt sich meine Hoffnung. Plötzlich tauche ich über dem Nebelmeer auf. Herrlicher Sonnenschein, strahlend blauer Himmel, grüne Wiesen und weidende Kühe begrüssen mich. Was ein paar Meter Höhenunterschied ausmachen können.

Bei der Haltestelle Rigi Staffelhöhe gilt es auszusteigen, um die letzten Schritte zum Hotel zu Fuss zurückzulegen. Der Ausblick vom Balkon meines Zimmers ist schlicht atemberaubend. Der Moment lässt mich innehalten und erinnert mich daran, wie unglaublich schön das Leben sein kann.
Seit meinem ersten und bisher einzigen Besuch im Regina Montium sind fast acht Jahre vergangen. Kurz darauf wurde dem Restaurant seinerzeit das begehrte Macaron durch den Guide Michelin verliehen, den es bis heute durchgehend gehalten hat. Einen Wechsel gab es zwischenzeitlich in der Küche. Benedikt Voss, ehemaliger Souschef, hat das Küchenzepter übernommen. Das Konzept hingegen hat sich zumindest auf den ersten Blick nicht merklich verändert. Verarbeitet werden ausschliesslich Schweizer Lebensmittel (ausser dem Kaffee). Im Fokus stehen primär Produkte aus der Umgebung und natürlich die über 400 Kräuter, die Hausherr und Druide Gregor Vörös hier oben auf 1’550 m ü. M. kultiviert. Daraus entsteht das Terroir-Menü, wie sie es nennen.

Dass die Uhren im Regina Montium etwas anders ticken, zeigt sich beim Einstieg ins Menü. Vor mir wird ein kaputtes Weinglas, das umgekehrt auf einem Steinuntersetzer ruht, platziert. Nichts zu essen, nichts zu trinken, nur zu riechen. Ein kleines Ratespiel, das den umfangreichen Kräutergarten von Gregor Vörös in einem anderen Licht präsentieren soll. Ich rieche schnell, dass es sich um Lavendel handelt, meine aber auch noch etwas anderes zu erkennen, ähnlich dem Duft von Thymian. Zu weit gedacht, wie mir die Bedienung sagt, es ist einfach nur Lavendel. Das Ganze funktioniert auf einer spielerischen Ebene und ist im Kontext dieses Restaurants und dieses Ortes zu verstehen, weshalb es keinesfalls prätentiös wirkt.

Zum hausgemachten Gin mit ebenfalls im Haus produzierten Tonic werden die ersten Snacks gereicht. Auf dem Stein liegen die gepuffte Seeforellenhaut und der Rogen des Fisches, Wildrillettes, Misomayonnaise und Zironenthymian. Vorne im Schälchen gibt es ein Eglitatar mit komprimierter Wassermelone und Schildampfer. Links ein Süppchen vom kubanischen Oregano. Vergleichsweise leise und puristisch kommen die Hors d’oeuvres daher. Eher zurückhaltend gewürzt, lassen sich bei jeder Petitesse die einzelnen Komponenten erschmecken, ohne gleich einen Frontalangriff auf die Papillen zu starten. Sehr gut.

Die nächsten Grüsse aus der Küche werden an einer Wäscheleine aufgehängt präsentiert, die mir noch vom letzten Besuch in bester Erinnerung ist. Heute findet sich hier Jamaika-Thymian, Rehtrockenfleisch, Luftradieschen, Zimtpfeffer und ein Habichtspilzchip. Dazu gibt es exzellentes Brot sowie eine Rigibutter. Letztere wird von einer Nachbarin in relativ kleinen Mengen hergestellt, weshalb ihr das Kräuterhotel die gesamte Produktion abnimmt. Und das absolut zu Recht, wirkt sie doch mit ihrer reifen Fettigkeit fast schon kernig. Herrlich, wenn eine vermeintlich unscheinbare Butter zu einem Erlebnis wird. Aber auch die Happen an der Leine müssen sich nicht verstecken. Allen voran das exzellente, mürbe Trockenfleisch. Man könnte sich sicher eine Art belegtes Brot zusammenstellen, ich entscheide mich aber im Sinne des puren Geschmacks dazu, jedes Element einzeln zu verkosten.

Eine in Koji gereifte Felche aus dem Zugersee mit Fenchel (als Salat, als Püree, gepickelt sowie frittiert), Süssdolde (einmal frisch und die fermentierte Samenkapsel) sowie eine Sauce von Zitronenverbene und Ananaskamille markieren den ersten Gang. Voss überrascht mit einem sehr leisen, zarten Geschmacksbild. Der Fisch ist durch die Reifung sicher ein wenig aromatischer geworden, bleibt aber geschmacklich dennoch sehr zurückhaltend. Besonders bemerkenswert ist jedoch die texturelle Veränderung. Das Fleisch erinnert in seiner Struktur an gereiftes Neta (die Fischauflage bei einem Stück Nigiri) eines weissfleischigen Exemplares wie beispielsweise Flunder oder Seebrasse. Auch der durchdeklinierte Fenchel ist trotz seiner inhärenten Kraft nicht überlagernd, sondern lässt eine wunderbar harmonische Liaison entstehen. Die subtilen zitrischen und floralen Noten der Sauce runden das Ganze gekonnt ab.

Nach den bisher sanften und leisen Tönen wird der nächste Akkord beim Taco etwas lauter angeschlagen. Der Teigling besteht aus üppigem Tessiner Farina Bona Mehl, die Füllung aus einem Rindertatar (natürlich vom Rigi Bio-Rind), Kimchi Radieschen, eingelegten Radieschen, gepufftem Buchweizen, Wasabirauke und einer Kimchi-Mayonnaise. Obwohl das von einer lauthals marktschreierischen Plakativität immer noch weit entfernt ist, ist die Intensität in Summe doch ein ganz andere. Aufgrund der Zubereitung als Tatar (keine Röstaromen, kühl), treten die Begleiter viel stärker in den Vordergrund und nehmen eine ungleich wichtigere Rolle ein. Statt auf plumpe Wucht und Würze setzt Voss weiterhin auf Balance, Geschlossenheit und ein sich quasi natürlich vervielfältigendes Geschmacksbild mit Komplexität und Tiefe. Ein Volltreffer der etwas anderen Art.

Weiter geht’s mit konfiertem Hecht, der von einem Kalbskopfsalat, Tomatenketchup, fermentierten Liebstöckelstielen und Stangensellerie begleitet wird. Getoppt wird das Ensemble mit gepuffter Kalbsmaske, Petersilie und Hechtkaviar, dazu gibt es eine Liebstöckelsauce. IIch bin wirklich erstaunt, wie Voss es schafft, starke, pointierte Aromen so zu verbinden, dass es nicht zu einem sich ins Unermessliche steigernden, vor Druck berstenden, überfordernden Ganzen kommt. Auch dieser Teller ist wieder bemerkenswert feinsinnig, eigenständig und dankt es, wenn man sich etwas genauer mit ihm auseinandersetzt. Gleichzeitig bleibt er so zugänglich umgesetzt, dass man das nicht zwingend muss. Grosse Klasse.

Wirz, Miso-Buttersauce, Spitzkohlsalat, Umeboshi, Haselnüsse und Wiesenkümmel suggeriert nicht nur Rustikalität, sondern ist eindeutig hemdsärmerliger als das bisher Gezeigte. Im Prinzip ist das eine elaboriertere Version eines hausmännischen Kohleintopfs, der um zusätzliches Umami (Miso) und eine gewisse salzige Säuerlichkeit (Umeboshi) erweitert wird. Anfangs ungemein schmackhaft, erschöpft sich das Breitwandumamibild jedoch relativ schnell, wirkt dann ein wenig eindimensional und auch rasch sättigend. Ein molliger, schmackhafter Wohlfühlteller für kalte Abende, der das Niveau des bisherigen Menüs jedoch nicht ganz halten kann.

Als kleine Erfrischung zwischendurch wird eine Granita serviert, die es in sich hat. Sie besteht aus Lakritze und Tagetes (Studentenblume). Am Tisch wird zusätzlich ein grosszügiger Schluck Marc angegossen, wodurch es ungeheur intensiv nach Anis schmeckt. Müde Gemüter werden augenblicklich durch die kühle Welle, die Gaumen und Nase flutet sowie die Schärfe des Alkohols wieder aufgeweckt. Mich lässt es unweigerlich die Augen zusammenkneifen und einmal tief durchatmen. Eine sehr mutige Interpretation einer Erfrischung, die einfach Geschmackssache ist.

Wie schon beim Wirz zuvor spielt auch beim nächsten Teller das Umami eine tragende Rolle. Allerdings ist hier die Herzhaftigkeit einerseits vielschichtiger inszeniert, andererseits sorgen die anderen Elemente für die nötige Balance und Spannung. Doch von vorn: in der Mitte liegt ein offener Raviolo, gefüllt mit geschmortem Kräuterseitling, Mönchskopf, fermentiertem Spitzkohl, Cassis und Steinpilzpüree. Frische und fermentierte Tannenspitzen liegen obenauf, ein Schaum vom Reizker (ein Pilz aus der Gattung der Milchlinge) rundet das Gericht ab. Die Sauce ist sehr vollmundig und dicht, hat einen markant süsslichen Anstrich und will gut portioniert werden. Neben der herben Frische der Tannenschösslinge setzt aber auch der Spitzkohl wohldosierte Kontrapunkte in diesem intensiven Dickicht. Als besonders apart erweist sich der Einsatz von Cassis, der durch seine burschikose Fruchtwürze eine ganz ungewöhnliche, eigenständige Note ins Spiel bringt, die für das gewisse Etwas sorgt.

Ausladend üppig und fast schon rustikal deftig wird es beim Hauptgang. Serviert wird ein rosa gebratener Hirschrücken, gezupfte Gamsschulter, fermentierte Edamame, Zuckermais sowie eine Kräuterhollandaise. Der Mais, die Röstzwiebeln sowie die kräftige dunkle Sauce erinnern mich unweigerlich an TexMex. Abgesehen davon, dass es tadellos zubereitet ist und die einzelnen Elemente für sich genommen sehr gut schmecken, ist es an dieser Stelle des Menüs einfach zu viel. Zu üppig portioniert, zu intensiv, zu fordernd, zu wild. Dramaturgisch mutet dieser Teller wie eine Hun­dert­acht­zig­grad­wen­de an. Mir erschliesst sich auch die Kombination von Hirsch und Gams nicht, da sie sich gegenseitig den Platz an der Sonne streitig machen. Das ist wirklich schade, denn gerade eine solche Rarität wie die Gams hätte eigentlich einen eigenen Gang verdient. Bei aller zweifellos vorhandenen Qualität trifft hier die alte Redewendung "zu viel des Guten" den sprichwörtlichen Nagel auf den Kopf.

Voss will es in der Schlussrunde offenbar noch einmal wissen und leitet mit einem Kapuzinerkresseblütensorbet, Paprika (Salat und Schaum) sowie gepufftem Gerstenmalz in den süssen Teil des Abends über. Zuerst schmeckt man nur Paprika, was - vor allem bei einem Dessert - gewöhnungsbedürftig ist. Doch beim zweiten Bissen öffnet sich plötzlich eine ganz neue, andersartige Welt. Die Fruchtigkeit der Paprika tritt in den Vordergrund und lässt das Herzhafte fast vollständig im Hintergrund verschwinden. Auch wenn das Sorbet dazu eher herb als klassisch süss-säuerlich ist, entsteht zusammen mit dem nussigen Gersten-Crunch eine eigenständige Geschmackswelt, die sich trotz der ungewöhnlichen Zutaten und des kantigen Einstiegs ganz klar im Dessertuniversum verorten lässt. Unerwartet gelungen.

Ohne Umschweife genussbereit präsentiert sich das Heuglacé mit Hagebutte, Apfel und Sanddorn. Angefangen beim fein-cremigen Eis, das nach getrockneter Blumenwiese und frischer Milch schmeckt, über das punktgenau abgestimmte Zusammenspiel des frisch-fruchtigen Apfels mit der herben, süsssäuerlichen Note der Hagebutte bis hin zum Sanddorn, der glücklicherweise nicht demonstrativ in den Mittelpunkt gerückt wird. Vielmehr fungiert er als verbindender Kicker, der diesem in sich geschlossenen Kollektiv einen straffen, erfrischenden Unterbau verleiht. Herrlich.

Auch die Petits Fours können sich sehen lassen. Im Detail sind das: Honigwabe - Sonnenblumenkern-Macaron mit schwarzem Knoblauch und einer Ganache mit Schabzigerklee - Rahmtäfeli mit Zitronen-Bergbohnenkraut.

Auch wenn das Wetter und die spektakuläre Natur auf der Königin der Berge die Laune merklich anheben, ist Benedikt Voss’ Küche klar die Hauptzutat für eine richtig gute Zeit im Kräuterhotel Edelweiss. Durch die selbstauferlegten Einschränkungen schafft Voss eine abwechslungsreiche Autorenküche mit klarer regionaler Identität, die am Tisch aber glücklicherweise kein langatmiges und abgedroschenes Storytelling benötigt. Man beschränkt sich auf das Wesentliche und stellt das Essen in den Vordergrund. Dass man die gesamte Butterproduktion von der Nachbarin bezieht, dass auch das Rind aus unmittelbarer Nähe stammt und das Wild aus lokaler Jagd, sind schliesslich nicht irgendwelche beliebigen Informationen, sondern Eckpfeiler des Konzepts. Sie vermitteln dem Gast ganz unaufgeregt ein Gefühl von Zeit, Raum und Ort. Hier kann man die Teller für sich selbst sprechen lassen, die haben schliesslich genug zu erzählen.


Die Weinbegleitung:
Chasselas Sélection 2022, Anne-Claire Schott, Bielersee AOC
La Colombe Ecce Hors Série 2019, Paccot Domaine La Colombe, La Côte AOC
Seemühle Chardonnay 2022, CasaNova, Walenstadt
Omnis Orange Nature 2020, Henri Cruchon, La Côte
Albi 2020, Weingut Besson-Strasser, Klettgau
Assemblage Noblesse 2021, Domaine du Petit Château, Vully
Le Passerillé Vin Doux 2022, Henri Cruchon, La Côte AOC


Regina Montium
im Kräuterhotel Edelweiss
Station Staffelhöhe
6356 Rigi Kaltbad
+41 41 399 88 00
Website

 

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