elmira (Vilson Krasnic) - Zürich

elmira (Vilson Krasnic) - Zürich

Grossstadtgeflüster

Läuft man im Schatten der imposanten Silos und des Kamins der ehemaligen Löwenbräu Brauerei zum Restaurant elmira, könnte man kurzzeitig der Illusion verfallen, Zürich sei eine richtige Metropole. Zwar selbst in der Scheinwelt im überschaubaren Schweizer Format, aber dennoch.
Der Standort des Lokals, im Keller eines Gebäudes auf einem ehemaligen Industriegelände, weckt durchaus Erinnerungen an New York, London oder an die Mini-Weltstadt Kopenhagen. Vorbei an einer Bar und einer Pétanque-Bahn kann man mit leicht geneigtem Kopf bereits einen Blick ins Restaurant erhaschen. Eine schwere Eisentür weist dezent auf den Namen elmira und damit auf den richtigen Weg hin. Mit dem Lift geht es einen Stock nach unten ins Soussol. Begrüsst wird man von kühlem Industrial Chic, gepaart mit kontrastierendem Holz im warmen New Nordic Style. Da ist es wieder, das Gefühl, in einer urbanen Metropole zu sein.
Als das Restaurant eröffnet wurde, machte es zunächst durch die Tatsache von sich reden, dass das Essen und die Getränke im Voraus bezahlt werden mussten. Das war seinerzeit sogar einigen der grösseren Postillen der Schweiz einen Artikel wert, obwohl dieses Konzept auch hierzulande nicht neu ist (die besternte Steinhalle in Bern nutzt es beispielsweise seit 2017). Das Positive an den Berichten? Eine breitete Masse wurde zumindest ein wenig für die No-Show Thematik sensibilisiert. Diese ist aber natürlich nur ein Teil der Wahrheit. Müssen Tickets im Voraus erworben werden, hat der Gastronom neben einer gewissen finanziellen Sicherheit auch die Möglichkeit, gezielter und somit nachhaltiger planen zu können. Womit wir wieder beim elmira wären. Schliesslich hat sich das Restaurant die Nachhaltigkeit auf die Fahnen geschrieben. Neben der Vermeidung von Foodwaste setzt man auf Nose to Tail bzw. Root to Leaf, achtet nicht nur auf die Qualität der Produkte, sondern auch auf die Art und Weise, wie sie erzeugt werden und denkt generell so lokal wie möglich, ohne dabei völlig dogmatisch zu agieren. Das ist natürlich nur die Spitze des Nachhaltigkeits-Eisbergs, schliesslich gehören neben den ökologischen Aspekten auch die ökonomischen und die sozialen dazu.
Spannend ist in diesem Zusammenhang die Personalie des Küchenchefs, Vilson Krasnic. Der Innerschweizer hat sich vor seinem Engangement im elmira in St. Moritz (Dal Mulin) und in Zürich (Musigny) einen Namen mit klassischer Küche gemacht. Das Spielfeld beinhaltete Steinbutt, Langoustine und Périgord Trüffel. Saibling, Radieschen und Sellerie spielten keine grosse Rolle. Sich mit einem solchen Hintergrund auf die Vorstellungen und Vorgaben der elmira-Betreiber einzustellen, dürfte durchaus eine Herausforderung gewesen sein. Dass sich der Chef schnell zurechtgefunden hat, beweist nicht zuletzt der Michelinstern, der bereits im Eröffnungsjahr verliehen wurde. Zwischenzeitlich ist auch ein grüner Stern hinzugekommen.
Ich habe einen Tisch direkt vor der offenen Küche, mit bestem Blick auf das heitere, fokussierte Treiben der Köche. Restaurantleiter und Sommelier Nicolas "Nici" Bernet hat bereits ein Glas Favorite von Vincent Roussely eingeschenkt, einen sehr schmackhaften Crémant de Loire. Jetzt kann es losgehen.

Kulinarisch eröffnet wird der Abend mit einem Snacktrio. Oben eine “Auster”, die im Sinne der lokalen Verwurzelung natürlich keine Auster ist, sondern eine Kombination aus Austernseitling und Austernpflanze. Verblüffend gefühlsecht setzt die Küche diesen neckischen Snack in Szene. Schliesst man die Augen, meint man tatsächlich eine gewisse Jodigkeit zu schmecken, die Gischt vor sich und die salzige Meeresluft in der Nase zu haben. Grossartig! Der Blumenkohl mit Ras el-Hanout bezirzt mit warmen, orientalischen Aromen, während die fein gearbeitete Kohlrabitasche, gefüllt mit geschmortem Kohlrabi und Meauxsenf, Bodenständigkeit in eine überaus elegante und vor allem verdammt leckere Form transportiert. Man fühlt sich im elmira ohnehin auf Anhieb richtig wohl und voller Vorfreude, aber diese gelungenen Snacks machen direkt noch mehr Lust auf das, was noch kommt.

Als ein Signature Dish wird der Brügglisaibling mit Dashireduktion angekündigt. So Signature, dass der wie immer exzellente, mit betörendem Schmelz ausgestattete, dabei keineswegs fettige Fisch aus dem Kanton Schwyz sogar mit dem heissen Eisen abgestempelt wird. Sicher ist sicher. Die Dashi ist trotz des Einreduzierens immer noch sanft und zurückhaltend, womit sie den Fisch geschickt umschmeichelt. Obenauf finden sich einige frische Kräuter und Blüten sowie etwas Meerrettich. Letzterer dürfte ruhig etwas grosszügiger portioniert sein, verleiht er doch zumindest einigen kleinen Bissen einen wohldosierten Frischekick sowie eine dezente Schärfe, die man gerne auf jeder Gabel hätte.

Während mehrere Enten gut sichtbar über dem japanischen Konro Grill baumeln, kommt der Wasservogel bei der nächsten Petitesse als vorzüglich abgeschmecktes Pastrami auf den Tisch. Dahinter im Reagenzglas verbirgt sich dazu eine tiefe, dichte Wildessenz. Der ultimative Glücklichmacher für kalte Tage.

Zum grandiosen Sauerteigbrot vom Eigenbrötler gibt es eine Schmelzzwiebelbutter, die mich schon nach dem ersten Bissen richtig gierig werden lässt. Bei Brot und Butter bin ich immer vorsichtig, schliesslich sind die Menüs ausnahmslos umfangreich genug. Doch jeder Widerstand ist zwecklos, denn die Butter schmeckt so unfassbar gut, dass ich sie am liebsten direkt aus der Schüssel lecken würde. Und damit nicht genug. Der Hase und der Hirsch auf dem anderen Teller sind nämlich nicht nur Dekoration, sondern tolles Knäckebrot. Und dann sind da noch die heissen, saftigen und würzigen Gamspfefferknödel, die nicht minder gelungen sind. Wer das sabbernde Homer Simpson Meme kennt, der weiss, wie ich mich gerade fühle.

Gesitteter geht es beim Radiesli-Karussell zu und her, einer elmira-Kreation der ersten Stunde. Unterschiedlich eingelegte Radieschen werden mit einer Ziegenfrischkäsemousse (von everybody’s darling Toni Odermatt), Senfsaat, einer Rotkrautreduktion sowie Kalbszunge kombiniert. Zuerst denke ich, dass ein paar mehr Stücke der in Würfel geschnittenen Zunge den Teller bereichern würden. Doch durch den spärlichen Einsatz wirkt das Fleisch bei einigen Bissen wie eine dunkle, herzhafte Würze, die molligen Genuss für die kühle Jahreszeit andeutet, während die Gabeln ohne Zunge wie ein spätsommerlicher, herb-frischer Salat wirken. Sehr gut.

Mit Kürbis und Kimchi verlässt Krasnic Kontinentaleuropa zumindest in Gedanken. Ich bin kein grosser Fan des oftmals dumpfen, schweren und süsslichen orangenen Gemüses. Doch hier werden die besten Seiten davon herausgekitzelt. In der Mitte eine seidige, ultradelikate Chawanmushi aus Butternusskürbis und Seidentofu, die exemplarischer kaum sein könnte. Technisch makellos. Dem gegenüber steht das Kimchi, das mit seinen funky Fermentationsaromen und seiner subtilen Schärfe den idealen Gegenpol zum milden Eierstich bildet, ohne durch seine Kraft zu überlagern. Cremige und knackige Kürbiszubereitungen sorgen für Kurzweil am Gaumen, während einige Kräuter frische Abwechslung ins Spiel bringen.

Von Fernost geht es ohne Umschweife zurück in heimische Gefilde und direkt in mein Herz. Im Mittelpunkt steht eine umwerfende Zwiebelessenz, die mit betörenden Röstaromen die Sinne regelrecht benebelt. Sie schmeckt ganz anders als die Zwiebelessenz, die mich kürzlich im Du Bourg ebenfalls aus den Socken gehauen hat (zum Bericht), doch nicht weniger gelungen. Die appetitlich gerösteten Perlzwiebeln samt cremig-würziger Käsefüllung könnte man fast links liegen lassen. Aber eben nur fast, lassen sie doch das Herz eines jeden Liebhabers der klassischen Soupe à l’Oignon höher schlagen. Man wähnt sich augenblicklich nicht mehr im urbanen Industrial New Nordic Chic, sondern in einem Bistro in Lyon. Auf den Boden der Tatsachen - oder in den Keller eines Zürcher Silos, wie man will - wird man spätestens dann zurückgeholt, wenn man feststellt, dass es in Frankreich kaum je so gut schmeckt wie diese Version hier.

Hinter dem als "Herbstschnitte" annoncierten nächsten Gang verbirgt sich nicht etwa ein Sandwich oder dergleichen, sondern ein Stück geschmorter, dehydrierter Sellerie, der anschliessend mit Kojibutter arrosiert wird. Dieses Prozedere verleiht dem bescheidenen Wurzelgemüse eine spannende Textur - irgendwo zwischen butterweich und zartem Biss - sowie natürlich reichlich Umami. Dazu gesellen sich nussig-süssliche Kastanien, die eine gewisse Mundfülle mitbringen, sowie Trüffeln (als Marmelade und frisch gehobelt). Der Tuber stammt, wiederum ganz dem Konzept folgend, nicht etwa aus dem Périgord, sondern vom nahen Üetliberg. Kritisieren kann man den Einsatz des in Zürich gesammelten Edelpilzes nicht, doch geschmacklich ist das freilich kein Vergleich mit den französischen oder australischen Exemplaren. Der Pilz ist viel weniger intensiv, nicht so ausdrucksstark und dadurch auch weniger dominant. Man könnte durchaus sagen, dass er eigentlich fast besser zu Krasnics filigraner Küche passt. Und so schliesst sich der Kreis halt doch auf sinnvolle Weise.

Die Ente, die ich den ganzen Abend beobachtet habe, kommt nun in Form der Brust als Hauptgang auf den Tisch. Bis sie verzehrt werden kann, scheut die Küche keinen Aufwand, um das Federvieh genau nach ihren Vorstellungen auf den Teller zu bringen. Weil es sich so schön liest, der Prozess im Detail: zuerst wird die Ente aus dem Appenzell zweimal blanchiert, anschliessend erhält sie eine Salzwasserinjektion, um danach für drei Tage luftgetrocknet zu werden. Danach wird sie bei Niedertemperatur ganz langsam gegart, schliesslich abgeflämmt, um die Haut aufzuknuspern und zu guter letzt mit einer Honig-Ahornsirup-Glasur bestrichen. Hier blitzt der nicht dogmatische Ansatz des Restaurants dann mal durch, da der Ahornsirup aus Kanada stammen dürfte (mir ist zumindest kein Ahornsirup aus der Schweiz bekannt). Begleitet wird die Ente von Szechuanpfeffer in einer gelungenen, leichten Jus sowie einer Pilzcrème, die mit frischen Steinpilzen getoppt ist. Das Fleisch ist herrlich saftig und kräftig, für mich bei einigen Bissen und in Kombination mit den anderen Elementen jedoch etwas zu salzig. Auch wenn die prickelnden Fruchtschalen des Zitrusgewächses eine gewisse Frische suggerieren und den vollmundigen, dichten Umamischwall etwas auflockern, vermisse ich auf Dauer etwas Säure, die die salzige Wucht stärker aufbricht, um dem Ganzen mehr Balance zu verleihen. Das ist immer noch sehr gut und der Teller ist auch im Nu leergeputzt, doch in Summe nicht ganz auf der Höhe des bisher Gezeigten.

Selbstredend dient die New Nordic Cuisine auch modernen Restaurants mit lokalem Einschlag als Inspirationsquelle und Nährboden für Kreationen wie die folgenden grüne Erdbeeren mit Dillsorbet und Holunderblüte. Es schmeckt haargenau so, wie man beim Annoncieren denkt, dass es schmecken wird. Und zwar bis zur allerletzten Konsequenz. Nasendurchpustend herb, aufweckend frisch, betäubend kalt. Ein Mix aus Palate Cleanser, abgedrehtem Pré-Dessert und dem Ablecken eines taufrischen Schrebergartens in den ersten Sonnenstrahlen nach einer Polarnacht. Sowas kann man mögen oder auch nicht. Ich mag es, weil es handwerklich einwandfrei ist und ohne Rücksicht auf Verluste durchgezogen wird.

Fast schon traditionell muten die "Figolini" an. Eine Wortkreation von Krasnic, die sich im Kern um Pasta und Feigen dreht. Eine gefüllte, süsse Teigtasche ist auf dem Teller, ähnlich einem Xiao Long Bao, daneben die saftig-süssen, ausladenden Feigen, eine opulente Crème Anglaise sowie knusprige, vollmundige Piemonteser Haselnüsse. Dieser Teller dürfte jeden Freund klassischer Desserts die Augen schliessen lassen und ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Unkompliziert und zugänglich, dank unterschiedlichen Texturen und der punktgenauen Feinjustierung aber weit entfernt von beliebiger Belanglosigkeit.

Ganz zum Schluss kommt auch der namensgebende Apfel noch zum Einsatz. Der Elmira Apfel wird mit Ingwer verfeinert und auf eine Rosenpavlova gepackt. Ein nahezu perfekter Happen, der ein durchweg tolles Mahl würdig abschliesst.

Alles im elmira ist darauf ausgerichtet, dass man einfach nur geniessen und eine gute Zeit haben kann. Die kleine Mannschaft vor Ort bietet alles, was man dafür braucht. Allen voran natürlich Krasnics hochstehende, abwechslungsreiche Küche. Seine Vergangenheit in der klassischen Luxusküche schimmert bei seinen feinsinnigen Kreationen immer durch. Die Geschmacksbilder sind zumeist sehr elegant, ausgewogen und fokussiert. Frei von jeglicher Rustikalität, die mit einem lokal verwurzelten Konzept gerne mal einher geht. Es gibt nicht viele Köche, die das so hinbekommen. Dazu spannende Weine abseits des Mainstreams sowie eine exzellente alkoholfreie Getränkebegleitung. Eine tolle Atmosphäre, getragen vom gut gelaunten Personal und einer eklektischen Playlist, die mich im Laufe des Abends immer wieder mit dem Kopf nicken liess.
New York, London oder Kopenhagen sind zwar immer eine Reise wert. Es ist jedoch schön zu wissen, dass ein besonderes Erlebnis wie das elmira quasi direkt vor meiner Haustüre auf mich wartet.


Weinbegleitung und alkoholfreie Begleitung von Nicolas "Nici" Bernet:
Favorite, Vincent Roussely - elmira Shrub
Muschelkalk, Stefan Vetter - Randen Limonade
Chardonnay, Judith Beck - Kürbis Mate
Bastingage, Terre de l’Elu - Cranberry Shiso
Gamay, Domaine de Beudon - Nr.4 Féral
De l’Aube à l’Aube - M. Chatelin - Kirsche Szechuan
Riesling Spätlese, Gut Hermannsberg - Hirschbirne Obsthof Retter


elmira
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Schweiz
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