Temporaire Schwarzwaldstube (Torsten Michel) - Baiersbronn

Temporaire Schwarzwaldstube (Torsten Michel) - Baiersbronn

Höchstleistung im Container

Spät nachts, nach einem langen Tag im Restaurant, ins Bett fallen. Morgens früh raus, um den Mittagsservice in Angriff zu nehmen. Doch anstatt sich vor Ort die Kochjacke überzuziehen und mit der Arbeit loszulegen, steht man vor einem Berg aus Schutt und Asche. Was sich wie der erste Akt eines zweitklassigen Films liest, wurde für die Mitarbeiter der legendären Schwarzwaldstube zur bitteren Realität. In der Nacht des 4. Januar 2020 brannte das 230 Jahre alte Stammhaus der Traube Tonbach, das auch die besternte Köhlerstube sowie die rustikale Bauernstube beherbergte, komplett nieder.
Als einige Wochen später der erste Schock verdaut war und die Pläne für den Wiederaufbau standen, wurde schnell klar, dass die Restaurants eine Zwischenbehausung benötigten. Nur wenige Monate später wurden, mitten in der Corona-Pandemie, die beiden vormals besternten Restaurants wiedereröffnet. Auf dem Parkhausdach des Hotels, untergebracht in Containern, notabene. Dass die Mannschaft um Torsten Michel auch in ungewohnter Umgebung im trefflich getauften ‘temporaire’ Höchstleistungen abliefert, zeigte sich nach einem Jahr ohne Bewertung (der Michelin hatte sich nach dem Brand entschieden, die Bewertungen für den Guide 2020 zu streichen), als die angestammte Höchstwertung des roten Guides auch im temporären Zuhause wieder erkocht wurde.
Das Interieur des temporaire zeigt sich demjenigen der ursprünglichen Schwarzwaldstube komplett entgegengesetzt. Hell, chic, luftig, die Wände mit Kunst behangen. Würde man nicht die vielen vertrauten Gesichter im Service erkennen, könnten die beiden Restaurants nicht weiter voneinander entfernt liegen und es gäbe keinen offensichtlichen Grund, sie miteinander in Verbindung zu bringen. Doch spätestens, als ich es mir am Tisch neben der Fensterfront gemütlich mache, an meinem Glas 5 Sens von Olivier Horiot nippe und dabei die Speisekarte studiere, erscheint alles ausser der Umgebung zutiefst vertraut. Ein Gefühl, das durch die kurze Rücksprache mit Maître David Breuer bezüglich der Menügestaltung zusätzlich verstärkt wird. Abgesehen von den Räumlichkeiten, scheint hier alles beim Alten geblieben zu sein. Das lässt mich komplett entspannt und voller Vorfreude auf die kommenden Stunden blicken.

Es geht los mit (von links nach rechts): Ceviche von wilden Garnelen mit pikantem Jalapeñosud und grünem Apfel - Tatar vom pommerschen Rind mit Gurkenrelish, Eigelbmayonnaise und Gartenkresse - Gebeizte Meeräsche auf Algencracker mit Zitronencrème und Peperoni. Das ist alles irgendwie, naja, gut. Viel mehr aber auch nicht. Das Trio wirkt seltsam verhalten und ist auffallend zurückhaltend gewürzt. Die Schwarzwaldstube war zwar noch nie ein Restaurant, das direkt bei den ersten Happen ein Feuerwerk abfackelte (jaja, für die Nutzung dieses ausgelutschten Begriffs gehen ein paar Euro ins Phrasenschwein), das ist allerdings dennoch nicht der Standard, den man hier gewohnt ist.

Thunfischbauch und -rücken „Kishū“ mit krauser Glucke, Shoyumarinade und Imperialkaviar rückt aber direkt alles wieder gerade, was beim Auftakt schief ging. Superber Fisch von unvergleichlicher Zartheit und Eleganz. Auch hier ist die Würzung wieder unaufdringlich, aber perfekt justiert. Der phänomenale Thun sowie der ziemlich aromatische und vielschichtige Kaviar benötigen nicht viel. Ein bisschen zusätzliches Umami von den Pilzen, die für etwas Fülle und Substanz sorgen. Dazu die Marinade, die gekonnt alles verbindet und mit ihrer angenehmen Salzigkeit die optimale Abrundung dieses Ensembles sicherstellt. Superb.

Der erste Gang meines leicht angepassten und ergänzten Menüs ist gleich eines meiner allerliebsten Gerichte. Nicht nur aus Torsten Michels Küche, sondern überhaupt. Die kurz pochierten Gillardeau-Austern Nr. 1 mit Imperialkaviar Auslese und jungem Zwiebellauch, leichter Austernnage mit Champagneressig sind in Konzeption und Ausführung eine einfach nicht zu verbessernde Kreation, die man einmal im Leben gegessen haben sollte. Mindestens. Oder so wie ich, bei jedem Besuch. Durch das Pochieren wird den Austern ein wenig von ihrer Jodigkeit genommen, dafür wird ihre Fleischigkeit akzentuiert. Salz, Jod und Nussigkeit bringt der Kaviar zur Genüge mit und ist ein, besonders im Kontext der weichen Mollusken, wichtiges texturelles Element. Der eigentliche Grund, der dieses Gericht so unfassbar gut macht, ist allerdings die Nage. Pure Noblesse, von einer unnachahmlichen Feinsinnigkeit und Geschmeidigkeit, und dank des Essigs von ätherischer Leichtigkeit. Immer wieder aufs Neue einfach nur wow!

Richtig oldschool wird es beim Mosaik von Entenleber und gegrillter Taubenbrust in Geflügelgelee mit Muskat und Macis, eingelegte Früchte in Honigweincoulis. Auch wenn ich meine Jahre andauernde Foie-Fatigue mittlerweile ein wenig überwunden habe, ist ein Teller wie dieser in meinem Buch der Haute Cuisine nach wie vor eines der langweiligsten Gerichte, die man sich vorstellen kann. Nun, selbst wenn es nicht wirklich spannend ist, kann man die schiere Qualität einfach nicht in Abrede stellen. Über die kaum zu toppende Verbindung von fetter Leber und ausladenden Fruchtkomponenten muss an dieser Stelle kein weiteres Wort mehr verloren werden. Über die Umsetzung und die kleinen Kniffe allerdings schon. Da wäre einmal die Temperatur des Mosaiks - nicht kalt -, die die Produkte erst im besten Licht erscheinen lässt. Dazu die eingearbeitete Taubenbrust, die einerseits etwas Biss bringt und andererseits durch das Grillen auch für einen geschmacklichen Kick sorgt. Optimal dosiert und abgeschmeckt zeigen sich die Begleiter, die nicht nur schnödes Beiwerk, sondern integraler Bestandteil des Gesamtwerks sind. Kurzum: besser geht Langeweile kaum.

Beim nun folgenden gebratenen Sankt-Petersfisch mit Lorbeer gespickt, junger Fenchel und mariniertes Fenchelgrün, Emulsion von Gartenkräutern und Dillspitzen könnte man von einem regelrechten Stilbruch gegenüber den bisherigen Gängen sprechen. Wo vorher nobler Klassizismus und Exotik angesagt waren, zeigt sich jetzt ein fast schon bescheiden anmutender Schwenk Richtung Mittelmeer. Das viele Grün täuscht nicht, alles wirkt extrem frisch, lebendig, sommerlich, leicht. Was nur schon der Duft, der vom Teller aufsteigt, in mir auslöst, lässt sich wohl am trefflichsten als ein tiefes Glücksgefühl zusammenfassen. Wie bei der Lektüre eines Buches eines berufenen Schriftstellers fühle ich mich augenblicklich an einen anderen Ort versetzt und erlebe, was ich lese. Genau dasselbe passiert beim Genuss dieses unvergesslichen Ensembles. Ich esse nicht nur, ich begebe mich für wenige Minuten auf eine Reise in eine andere Welt und sauge die pure Wonne eines sonnigen Tages in Südfrankreich in mich ein. Mit allen Düften, Geschmäckern und Eindrücken. Erlebnisgastronomie der etwas anderen, besonderen Art.

Das Menü schielt mit den glasierten Medaillons von bretonischem Hummer mit Kürbis-Orangenchutney, karamellisierten Kürbiskernen und leichtem Kürbissud mit Ingwer aromatisiert wieder in fernere Gefilde. Was allem voran am punktgenau eingearbeiteten Ingwer liegt, der die gerne mal etwas dumpfe Süsse des satten Kürbis durchdringt. Gleichzeitig verleiht er auch der Kraft der Orange zusätzlichen Nachdruck. Dazu unterlegt er jeden Bissen mit einer subtilen, aber doch präsenten Schärfe, die am Gaumen sehr belebend wirkt. Da wirkt der Hummer, so gut er in diesem Fall auch ist, fast schon austauschbar. Oder zumindest nicht unbedingt als Hauptdarsteller identifizierbar. So erinnert diese Zusammenstellung eher an einen Eintopf, in dem jedem Element eine ähnlich wichtige Funktion zukommt und sich alle Geschmäcker bereitwillig entfalten können. Ungewöhnlich, wenn Hummer aufgetischt wird, aber in Summe sehr gut und durchaus auch mal etwas Anderes.

Die Pilze aus dem Nordschwarzwald (Trompetenpfifferlinge, Flockenstielige Hexenröhrlinge, Braunkappen, Rötliche Gallerttrichter) hat der Chef höchstselbst bei seinen Streifzügen gesammelt. Dazu serviert er zarte Kartoffelgnocchi mit sanft gegartem Eigelb vom Landhuhn und eine cremige Rotweinsauce. Pilze kommen viel zu selten als Hauptbestandteil eines Gerichts zum Einsatz. Dabei sind sie aufgrund ihrer Kraft, Vielschichtigkeit und Versatilität geradezu prädestiniert dafür. Michel setzt auf ein süffiges, schlotziges und molliges Geschmacksbild, das zum Weglöffeln einlädt. Allerdings ohne, die für ihn typische Raffinesse vermissen zu lassen, die hier vor allem von der abermals zum Reinlegen guten Sauce herrührt. Vielleicht marginal unter dem Niveau der bisherigen Gänge, was aber nur ins Gewicht fällt, wenn man unbedingt das Haar in der Suppe suchen möchte.

Als ich im à la carte Teil des Menüs auf das Sauté von Lammniere, -leber und -bries auf Graupen mit Lammfüssen und -zunge, eingelegte Gartengurken und Lammjus mit Küchenkräutern stiess, musste ich es unbedingt ins Dinner einbauen. Man ist hier glücklicherweise sowohl im Service als auch in der Küche so unkompliziert, dass man fast jeden Gästewunsch möglich macht. Deshalb musste auch kein anderer Gang für diesen weichen. Man hat, wo möglich, die Grösse der einzelnen Teller einfach ein klein wenig verringert, so dass ich problemlos ein, zwei zusätzliche Gänge schaffe. Warum die Wahl absolut unausweichlich war, zeigt sich schnell. Ein Geschmackserlebnis wie dieses findet man nämlich nur noch sehr, sehr selten. Und noch seltener in einer solch unfassbaren Qualität. Betörend intensiv, herrlich wuchtig, von bescheidener Erhabenheit, dennoch differenziert finessenreich, fein säuerlich, kräuterig herb und viele vermeintlich ausgeklügeltere Teller mit edleren Produkte in den Schatten stellend. Besonders hervorzuheben ist vor allem auch das Texturspiel. Es changiert gekonnt zwischen knackig, knusprig, saftig und verführerischem Schmelz. Die Küche der Schwarzwaldstube ist an Höhepunkten nicht eben arm, doch dieser sensationelle Teller gehört in die Spitze der absoluten Glanzleistungen des Hauses.

Höchst eigenständig geht es auch beim Hauptgang weiter. Michel lässt am Tisch wilde Wachteln präsentieren. Echte wilde Wachteln (aus dem Burgenland), nicht ausgesetzte Zuchtwachteln, wie er im Gespräch später noch betonen wird. Eine totale Rarität also, die man nicht jeden Tag vorgesetzt bekommt. Auf dem Teller finden sich die mit Rosmarin und Wacholder gebratenen kleinen wilden Dinger gemeinsam mit geschwenkten Rosenkohlblättern und Wildgeflügeljus mit grünem Pfeffer wieder. Dieses der Wachtel ohnehin innewohnende, dezente Wildaroma ist bei diesen Exemplaren noch ausgeprägter. Das ist Geflügel mit Charakter. Der Unterschied erinnert an denjenigen zwischen einem Kaninchen und einem Wildhasen. Die herbstlich-dunkle Einfassung umschmeichelt das superbe Fleisch und akzentuiert seinen wunderbaren Eigengeschmack. Explizit gelobt werden muss trotz des Vogelschaustücks einmal mehr die grandiose Sauce, die der Service wohlweisslich bereits beim Angiessen grosszügig portioniert und die bis auf den letzten Tropfen weggelöffelt wird.

Zumindest auf eine kleine Auswahl vom toll bestückten Käsewagen mit von Maître Antony affinierten Erzeugnissen möchte ich auch heute nicht verzichten. Immer wieder ein Hochgenuss.

Auf dem Posten des Chef-Pâtissiers hat sich in der Schwarzwaldstube in den vergangenen Jahren ziemlich was getan. Nach dem Abgang von Langzeit-Süsskramflüsterer Pierre Lingelser hat sich mitten in der Pandemie auch sein Nachfolger Logan Seibert aus der Truppe verabschiedet. Man hat die Vakanz im Team aufgefangen und haut mit der Mangoeiscrème mit indischen Gewürzen auf Baba-Muscovado und salzigem Erdnusskaramell, geeister Espresso mit Kokosinfusion gleich mal einen richtigen Kracher raus. Es ist vorstellbar, dass das Zusammenspiel aus präsenter Bitternis, pointierter Säure, einer fast schon überbordend würzigen, sehr fruchtigen Exotik und der süssen, dicken Nussigkeit für zartbesaitete Gaumen etwas zuviel des Guten sein könnte. Doch obwohl hier extrem viel los ist und sehr energische Geschmäcker aufeinandertreffen, verbindet sich schliesslich alles zu einem überaus stimmigen und reizvollen Ganzen.

Gesitteter geht es bei einem Klassiker des Hauses zu: Zuckerperle mit Zwetschgensorbet und Mousseline von Walnüssen auf Zwetschgen-Apfelkompott und Crèmeux von Cannelés de Bordeaux. Imponierend ist in diesem Fall das sehr fein austarierte Aromenspiel, bei dem die Pâtisserie es schafft, einerseits allen Komponenten Raum zur Entfaltung zu bieten, andererseits aber bei jedem Bissen die saftige, süss-säuerliche Zwetschge in den Mittelpunkt zu stellen. So wird jede Gabel von einer fruchtigen Behaglichkeit getragen, die auch zu später Stunde noch richtig Lust auf Mehr macht. Und ein bisschen was kommt ja noch…

… in Form eines Schokoladensoufflés „Schwarzwälder Kirsche“, Sauerkirschsorbet auf Kirschkompott, Manjari-Schokoladenganache und Mousseline von Kirschwasser. Unzählige dekonstruierte Versionen - mal mehr, mal weniger gelungen - habe ich über die Jahre vorgesetzt bekommen. Wenige waren so gut wie diese. Exzellent funktioniert das Temperaturspiel zwischen dem warmen, luftig-leichten Soufflé und dem kalten, intensiv-fruchtigen Eis und seinen Beilagen. Wiederum enorm fein und akkurat gearbeitet und punktgenau abgestimmt, lässt die Küche auch beim letzten offiziellen Gang des Abends kein bisschen nach.

Eine ganz kleine Auswahl der ausnahmslos exzellenten Petits Fours kann ich mir zum Schluss nicht entgehen lassen.

Ein Brand kann diesem Haus und diesem Team nichts anhaben. Auf den ersten Blick scheint, abgesehen von den Räumlichkeiten, alles beim Alten geblieben zu sein. Doch dieser Blick täuscht. Klar, der Service um den schelmischen Maître David Breuer und den smarten Sommelier Stéphane Gass zählt immer noch zu den besten überhaupt. Die Qualität von Torsten Michels Küche ist so profund und dem gesamten Team auf höchstmöglichem Niveau in Fleisch und Blut übergangen, dass man hier wohl gar nicht schlechter kochen kann. Doch man schafft das scheinbar Unmögliche: man hat sich noch ein Quäntchen verbessert.
Im Nachgang scheint es fast so, als ob der schlimme Brand Fluch und Segen zugleich war. Denn wenn es an der historischen Wirkungsstätte auf der anderen Strassenseite, die nun nicht mehr ist, etwas zu bemängeln gab, dann nur, dass die letzte Freiheit fehlte. Das ultimative Stückchen Lockerheit, das vielleicht aufgrund der Vergangenheit und Geschichte des Restaurants im alten Gebäude einfach nicht bis ganz an die Oberfläche durchdringen konnte.

Im temporaire zeigt man nun eindrücklich, dass man das Beste aus der Vergangenheit immer in sich tragen wird, sie gehört zur DNA des Teams. Gleichzeitig ist man aber fest verankert im Hier und Jetzt, um die bestmögliche Version der Schwarzwaldstube zu sein. Und blickt noch hoffnungsvoller in die Zukunft. Im April, wenn die neue Schwarzwaldstube eröffnet, wird man hier seine ganz eigene Geschichte weiter schreiben und den lebendigen Legendenstatus weiter zementieren. Als eines des besten Restaurants der Welt. Denn das ist es selbst jetzt - temporaire - in einem Container.


Die Weinbegleitung von Stéphane Gass:
Blanc d'Argile, Vouette & Sorbée
5 Sens, Olivier Horiot
Pinot Gris Grand Cru Brand 2016, Albert Boxler
Meursault Les Rougeots Selection Traube Tonbach by Stéphane Gass 2013, Vincent Girardin
Art’ 2018, Clos des Centenaires
Châteauneuf du Pape 2018, Domaine Saint Préfert
Gevrey-Chambertin Premier Cru Poissenot 2013, Domaine Humbert Frères
Riesling Marienburg Spätlese Goldkapsel VDP Grosse Lage, Clemens Busch
Cerquex 2017, Domaine Lesuffleur
Heimbourg Pinot Gris 2002, Domaine Zind Humbrecht
Vintage Port 2014, Quinta Do Vale Meão
Bukkuram 2017, Marco De Bartoli
Ebereschenbrand 2019, Mostbrennerei Käppler
Chartreuse V.E.P


temporaire - Schwarzwaldstube
im Hotel Traube Tonbach
Tonbachstraße 224
72270 Baiersbronn
Deutschland
+49 7442 492665
Website

 

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