Alchémille (Jérôme Jaegle) - Kaysersberg
Alchémille (Jérôme Jaegle) - Kaysersberg
Der heimliche König von Kaysersberg
Das Elsass wird von vielen Reisenden nach wie vor als sehr traditionelle Region wahrgenommen. Touristen sehen sich die hübschen Fachwerkhäuser an, trinken klebrigen Gewürztraminer, verdrücken eine dicke Scheibe Foie gras oder einen Baeckeoffe und sehen darin die Essenz der Region. Seit Ewigkeiten unverändert. Doch natürlich ist das Elsass alles andere als stehengeblieben. Klar, man kann und soll diese Dinge tun, die Touristen so tun. Es lohnt sich. Doch neben der klassischen Romantik hat sich längst ein moderner Gegenpol gebildet. Es gibt hervorragende Weine abseits der grossen Namen zu entdecken. Auch die Chefs sind nicht stehen geblieben. Man beruft sich zwar überall gerne auf die Historie des Bezirks im Nordosten Frankreichs, allerdings wurde die Küche gerade in vielen besternten Läden längst entstaubt. Jean-Yves Schillinger setzt im zweifach besternten JY’S in Colmar auf eine Art Fusionküche mit vielen asiatischen Elementen. Olivier Nasti, aus dem ebenfalls mit zwei Macarons dekorierten La Table d’Olivier Nasti in Kaysersberg, ist passionierter Jäger, was sich in seinen modernen Kreationen stark niederschlägt.
Einer, der bei beiden gelernt hat, ist Jérôme Jaegle. Seit 2015 betreibt er sein eigenes Restaurant L’Alchémille (französisch für Frauenmantel) in Kaysersberg, in dem er sich einen Stern erkocht hat. Der aus dem Dorf stammende Metzgerssohn hat nicht nur Stationen bei den genannten Chefs hinter sich, sondern machte auch schon in Japan Halt und stand für zwei Jahre auf Bermuda hinterm Herd. Zusätzlich wurde er am internationalen Kochwettbewerb Bocuse d’Or ausgezeichnet, als er 2010 Bronze am Bocuse d’Or Europa 2010 gewann und wo er im Jahr darauf Vierter beim Bocuse d’Or World wurde.
Von aussen wirkt das an einer Durchfahrtsstrasse gelegene L’Alchémille nicht unbedingt einladend. Doch tritt man über den Weg neben dem Parkplatz näher, sieht man an der Seite des Hauses einen kleinen Garten mit Terrasse. Im Innern herrscht beinahe nordische Nüchternheit mit viel Holz. Der erste Eindruck täuscht manchmal eben doch und kann durchaus korrigiert werden.
Gerade als ich mich eingerichtet habe und es mir bei einem Glas Fleur de l'Europe Brut Nature von Fleury langsam gemütlich mache, fällt eine chinesische Touristengruppe ins Restaurant ein. Die Anordnung der Tische neben mir liess zwar bereits auf eine grosse Gruppe schliessen, doch damit hatte ich nicht gerechnet. Für den Chef ist das eine Win-Win-Situation, um seine Kasse aufzubessern, wie er mir später erklären wird. Er verköstigt an einem ansonsten eher durchschnittlich frequentierten Wochentag zum Lunch in weniger als einer Stunde 15 hungrige, relativ anspruchslose Touristen mit einem kleinen Menü. Ich freue mich für den geschäftstüchtigen Jaegle, der seine Rechnung gemacht hat. Einziger Nachteil in diesem Moment ist der Lärmpegel. Nichts, was mich grundsätzlich stört, doch ich verstehe bei der Annoncierung der Amuses auch beim zweiten Versuch nicht, was da genau vor mir steht. Ist aber auch nicht weiter schlimm, denn keine der drei Kleinigkeiten bleibt nachhaltig in Erinnerung.
Ganz hervorragend ist nun dafür der Kartoffelschaum mit Brotcroutons, geräuchertem Salz und Sauerklee. Luftig, leicht, buttrig und erstaunlich kartoffelig präsentiert sich der tolle Schaum. Ihm wird die Knusprigkeit des Brotes gegenübergestellt, das vor allem für ein ansprechendes Texturspiel sorgt. Reichlich Sauerklee, der mit seiner herb-frischen Säure eine ordentliche Portion Lebendigkeit ins Spiel bringt und dazu für Balance sorgt. Sehr clever ist auch der Einsatz des geräucherten Salzes, das mit jeder Flocke zusätzliche Tiefe und Würze bringt. Klasse.
Lauch, Rettich, Rübe, Honig und Estragon sind die Komponenten des zweiten vegetarischen Ganges. Wer immer noch denkt, dass Spitzenküche nur mit Fisch, Fleisch und Co. funktioniert, sollte sich mal eine Kreation wie diese einverleiben, um sich endlich bekehren zu lassen. Das Zusammenspiel aus süsslichem Lauch, der dezenten Schärfe der knackigen Radieschen und der Rettichscheiben, erdiger Rübe und der zarten Anisnote des Estragons ist superb. Abgerundet wird das Ganze durch den präsenten, aber perfekt eingebundenen Honig sowie weitere stimulierende Kräuter. Sehr, sehr gut.
Nach zwei exzellenten Gängen will der Funke bei der Forelle aus der Region mit Fischrogen, grünen Bohnen, Bärenklau, Holunderbeere und Brombeere nicht so richtig überspringen. Schuld daran ist in erster Linie der Fisch, genauer gesagt dessen Temperierung und Konsistenz. Einerseits ist die Forelle kalt, was im Kontext dieses Ensembles keinen Sinn macht. Andererseits macht sie den Anschein, als ob sie im Sous-Vide-Bad gelandet sei und diese Kur nicht sonderlich gut überstanden hätte. Wie Babybrei mit kleinen Stückchen fühlt sich das Fleisch im Mund an. Nicht eben appetitlich. Allerdings sorgt auch die Begleitung nicht gerade für Höhenflüge, da sie trotz eigentlich prägnanten Aromen ziemlich verhalten daherkommt. Es lässt sich zwar durchaus erkennen, dass das eine spannende Kombi sein könnte, doch in der Umsetzung hapert es gewaltig.
Es bleibt bei einem kurzen Zwischentief, denn mit Hirsch, Rote Bete und Wacholder nimmt das Menü bereits wieder Fahrt auf. Diese Turmstudie in rot und grün überzeugt vor allem durch die Qualität des Wilds, das als Tatar-Kugel in der Mitte liegt, und den mutigen Einsatz des Wacholders. Letzterer kann schnell ins Penetrante abdriften und sich wie ein störender Film über jeden Bissen legen. Das passiert in diesem Fall trotz grosszügiger Dosierung nicht. Einerseits bringt sowohl das Fleisch als auch die Bete genügend Eigengeschmack mit, um nicht unterzugehen. Andererseits ist die Feinabstimmung nahezu perfekt getroffen, was die Harmonie erklärt. Als Tüpfelchen auf dem berühmten i fungieren die unscheinbaren Zwiebeln, die eine ganz dezente Schärfe sowie etwas Säure einstreuen.
Weiter geht’s mit Topinambur, Trüffel und Haselnuss. Klingt nach einer Wohlfühlkreation, die zum Tellerablecken animiert. Ziemlich genau das ist sie auch. Im Mittelpunkt steht ganz klar die Nussigkeit, die allen drei Hauptkomponenten innewohnt. Dahinter verbirgt sich allerdings noch viel mehr. Das erdige Umami und die Komplexität der Trüffeln sowie die subtile Gemüsesüsse der Jerusalem Artischocke. Alle Schichten nahtlos miteinander verwoben. Obwohl das an sich schon sehr gut ist, braucht es zwingend einen Gegenpol, der verhindert, dass man in beliebige Gefälligkeit abdriftet. Diesen Part übernimmt ein hervorragendes Kräuteröl, das die nussige Phalanx aufbricht und dadurch genügend Kontrast reinbringt und die Balance sicherstellt.
Für den nächsten Gang taucht einer von Jaegles Chefs am Tisch auf, um einen Steinpilz in einer schwarzen Cocotte zu präsentieren. Der Patron hat die Pilze im nahe gelegenen Wald gesammelt und dämpft diese anschliessend über Moos. Soviel vorab. Das Geschirr samt Koch verschwindet zurück an den Herd. Der Steinpilz taucht kurze Zeit später gemeinsam mit Haselnuss und einer Sabayon als puristisches Kunstwerk wieder im Speisesaal auf. Obwohl ich bereits die Optik durchaus faszinierend finde, bin ich nicht auf das vorbereitet, was der erste Bissen in mir auslöst. Angefangen bei der Struktur des Pilzes, die einerseits beim Schneiden butterzart wie ein Stück gebratene Foie ist, beim Kauen jedoch genau so viel Widerstand leistet, wie ein akkurat gegartes Stück Rindfleisch. Dazu dieses fast schon ausserweltliche Odeur nach Unterholz, einem dampfenden Waldboden in der frühmorgendlichen Herbstsonne nach einer kalten Nacht, viel, viel Umami und erneut auch reichlich Nussigkeit. Diese wird von der Haselnuss zusätzlich akzentuiert (man könnte denken, dass die direkte Wiederholung von Haselnuss unpassend oder gar langweilig ist, aber weit gefehlt). Abgerundet durch eine herrlich vollmundige und luftige Nussbutter-Sabayon, der genügend Säure innewohnt, um das Gericht zu tragen und ihm eine fast schon überirdische Leichtigkeit zu verleihen. Unfassbar, was dieses unscheinbare kleine Gericht auslöst. Eines der besten Gerichte, die ich jemals gekostet habe. Und selbstredend ab sofort Teil der The Important Stuff Hall Of Fame.
Nach so einem grandiosen Gericht geht es der Saibling mit Karotte und Tomatensaft vom letzten Jahr etwas gemächlicher an. Der Grundton ist, für ein Fischgericht eher ungewöhnlich, ziemlich erdig. Das rührt vor allem von der stattlichen Karotte her, die nicht sehr süss ist und dadurch eher an eine Rübe erinnert und ein herbstliches Gefühl aufkommen lässt. Doch auch die hervorragende Sauce schlägt in eine ähnliche Kerbe. Von der Frische der Tomaten ist nach einem Jahr nur noch wenig übrig, dafür steht ihr würziges, tertiäres Umami im Vordergrund. Allerdings wohnt der Sauce auch genügend Säure inne, um sowohl den Fisch ins richtige Licht zu rücken, indem sie dafür sorgt, dass er nicht von der Wucht überlagert wird, als auch ein wenig aufzulockern, damit das Ganze nicht zu plump daherkommt.
Beim Hauptgang setzt Jaegle auf eine Taube aus lokaler Zucht. Knallig pink wird die Brust serviert, dazu gibt es das gesamte Bein des Federviehs zum Abnagen. Relativ klassisch präsentieren sich die Beilagen Sellerie und Zwiebel, die um Pimpernelle ergänzt werden. Tolle Produktqualität des Täubchens. Die Beilagen samt Sauce erzeugen ein exzellent zum Fleisch passendes, leicht liebliches Geschmacksbild. Dem wird die dezente Frische der Pimpernelle gegenübergestellt, die mit ihrem an Gurke erinnernden Geschmack für willkommene Auflockerung und gekonnte Abrundung sorgt.
Den Einstieg in die süsse Welt des L’Alchémille macht ein Ensemble aus Kürbis, Nüssen und Honig. Regelmässige Leser wissen, Gemüse im Dessert kommt bei mir sehr oft, sehr gut an. Doch letztlich fällt das Urteil über gelungen oder nicht so gelungen natürlich die Qualität des fertigen Gerichts. Diese kann man dieser gar nicht so süssen Süssspeise nicht absprechen, zeigt sie sich doch zweifellos gefällig und harmonisch. Allerdings steckt auch nicht viel mehr drin als das. Es fehlt an Spannung und an Tiefgang. Schnell gegessen, schnell vergessen.
Die Kastanie mit Weinrose und Schokoladendulce hingegen werde ich mit Sicherheit nicht so schnell vergessen. Das liegt einmal das daran, dass die einzelnen Komponenten ihren natürlichen Geschmack behalten durften. Will heissen, dass neben der eigentlichen Zuckrigkeit aus der Schokoladendulce vor allem viel dumpfe Nussigkeit und fruchtige Säure im Spiel ist. Zusätzlich ist die Feinabstimmung absolut perfekt getroffen, wodurch die unscheinbare Kreation sehr rund daherkommt. Das klingt zwar alles gut, wenn auch langweilig. Doch das Gegenteil ist der Fall. Diese Zusammensetzung wirkt vertraut, versprüht dabei aber genügend Eigenständigkeit, um Spannung zu erzeugen. Nicht nur Spannung eigentlich, nein, dieses Ensemble wirkt sogar richtig packend. Gepaart mit dem unbändigen Wohlgeschmack ist dies ein absoluter Volltreffer und schrammt nur haarscharf an einer Aufnahme in die Hall of Fame vorbei.
Zum Espresso werden keine Pralinen oder dergleichen gereicht, sondern ein in Zucker kristallisiertes Blatt Salbei. Kann man gut finden, muss man aber nicht.
Der Lunch im L’Alchémille glich ein wenig einer Berg-und-Tal-Fahrt. Wobei die Täler glücklicherweise selten waren und auch nicht sehr tief. Selbst bei der eher enttäuschenden Forelle oder dem Kürbis waren zumindest interessante Ansätze auszumachen. Die Berge hingegen waren umso höher. Gerade der Steinpilz war so gigantisch gut, dass er es ganz locker in die Ruhmeshalle der besten Gerichte, die ich jemals gekostet habe, schafft. Doch auch unterhalb dieser allerhöchsten Sphären gab es einiges zu entdecken, das darauf schliessen lässt, dass Jérôme Jaegle und sein L’Alchémille nicht auf einem Michelin-Stern verharren werden. Das Kastanien-Dessert bewegt sich schon locker in Zwei-Sterne-Gefilden, und auch Kreationen wie der Topinambur oder der Saibling schielen in Richtung oben. In den besten Momenten sind Jaegles Kreationen voller Harmonie und gleichzeitig spannend. Simpel anmutend, aber mit enormem Tiefgang. Besonders erwähnenswert ist auch die sehr gelungene und abwechslungsreiche Weinbegleitung, in dessen Zusammenstellung der Chef stark involviert ist.
Auf dem kurzen Trip durchs Elsass, mit Besuchen in drei Zweisternern und dem L’Alchémille als einzigem Einsterner, hat mich nur die Küche von Altmeister Marc Haeberlin in der fantastischen Auberge de l’Ill (zum Bericht) mehr überzeugt als diejenige von Jérôme Jaegle. Ein Indiz dafür, dass der sympathische Metzgerssohn in seinem Frauenmantel auf bestem Wege ist, selbst eine Stufe höher zu klettern.
Alchémille
53 Route de Lapoutroie
68240 Kaysersberg
Frankreich
+33 3 89 27 66 41
Website
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