Locanda Orico (Lorenzo Albrici) - Bellinzona
Locanda Orico (Lorenzo Albrici) - Bellinzona
Lorenzo Albrici darf man mittlerweile wohl im positivsten Sinne als Urgestein der Schweizer Hochküche bezeichnen. Seit 1998 kocht er bereits in der Locanda Orico in Bellinzona, das sich in einem unscheinbaren Palais etwas abseits der Innenstadt befindet. Der Guide Michelin bewertet den gebürtigen Bellenzer seit mittlerweile 20 Jahren durchgehend mit einem Stern. Bevor er sich Ende der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts selbständig gemacht hatte, verbrachte er unter anderem mehrere Jahre in der Küchenbrigade von Frédy Girardet. Den Grossmeister aus dem Hotel de Ville in Crissier darf man getrost als grösste Schweizer Kochlegende bezeichnen, wurde er doch als eine von nur vier Personen vom Gault Millau zum Koch des Jahrhunderts gekürt. Viel klingender könnten die Namen seiner Compagnons in dieser Runde nicht sein: Eckart Witzigmann, Joël Robuchon und Paul Bocuse. Doch zurück zu Albrici. Dieser verbrachte, wie er selbst sagt, prägende Jahre in Girardets Brigade, zu der auch Philippe Rochat gehörte, und machte sich anschliessend in seiner Heimatstadt auf, das beste aus der französischen Schule mit der italienischen Küche zu verbinden. Soweit die Theorie.
Was mich bei meiner ersten Reise nach Bellinzona in der Locanda Orico dann wirklich auf den Tellern erwartet, werden die kommenden Stunden zeigen. Das Restaurant selbst wirkt nicht eben einladend. Als ich ankomme, ist noch kein anderer Gast im Lokal. Es herrscht beinahe andächtige Stille in den beiden Speisesälen, die mit ihren dunklen Deckenbalken und dem Terrakottafussbodenplatten wie aus der Zeit gefallen zu sein scheinen. Die Begrüssung allerdings fällt überaus freundlich aus, man spricht sogar deutsch, was mir die Peinlichkeit erspart, meine rudimentären Italienischkenntnisse bemühen zu müssen. Trotz der aktuell noch sakralen Atmosphäre bin ich guter Dinge was den Lunch angeht.
Dass Lorenzo Albirici im besten Sinne “old-school” ist, zeigt das erste Amuse-Bouche Vitello Tonnato. Beim oft gegessenen und selten wirklich genossenen Italo-Klassiker kann man so viel falsch machen. Angefangen bei den minderwertigen Produkten, die oftmals zum Einsatz kommen. Nicht so in der Locanda Orico. Die hochwertigen Produkte sowie die akkurate Würzung und Portionierung machen diese Petitesse zu einem tollen Auftakt.
Es folgt ein weiteres Canapé bestehend aus Entenbrust und rote Bete. That’s it. Braucht es wirklich mehr? Die Antwort ist ganz klar: nein. Macht man keine Abstriche beim Einkauf und verfügt gleichzeitig über ein makelloses Handwerk sowie die Gabe des perfekten Abschmeckens, sind zwei Zutaten mehr als genug, um seinen Gästen überdurchschnittlichen Genuss zu bereiten.
Das Apéro-Trio wird komplettiert von Alpenlachs mit Kaviar und Yuzu. Der Zuchtlachs stammt aus dem nahen Lostallo, wo er in Aquakultur mit Quellwasser gezüchtet wird, und erfreut sich in der gehobenen Gastronomie immer grösserer Beliebtheit. Ein tolles Erzeugnis mit festem Fleisch und sehr reinem Geschmack, der eher an Saibling erinnert, als an Lachs, wie man ihn gemeinhin kennt. Dazu gibt es golden-schwarz schimmernden Kaviar, der den Fisch mit seiner nussigen, salzig-jodigen Note klasse komplementiert. Für Frische und leicht bittere Säure ist die Yuzu besorgt, die aus drei Elementen ein kugelrundes Ganzes macht. Grossartig!
Rote Garnelen aus Mazara mit Wassermelone, Queller und Extra Vergine Olivenöl eröffnen nun den offiziellen Teil des Menüs. Ganz sanft nur gart Albirici die aus dem Südwesten Siziliens stammenden Garnelen, damit ihr delikates, zartsüssliches Aroma bestmöglich zur Geltung kommt. Auch die Mitspieler sind mit bedacht gewählt und eingesetzt. Etwas Süsse und Frische durch die Melone, ein wenig Knackigkeit und Salzigkeit vom Queller, herb-bittere Noten vom Öl - alle diese Geschmäcker verbinden sich zu einem sehr zarten Ensemble, das gerade durch seine Subtilität begeistert.
In der modernen Klassik dreht sich auch bei den schon länger auf dieser Klaviatur spielenden Köchen nicht mehr alles nur um die vermeintlich grossen historischen kulinarischen Vorbilder wie Frankreich oder Italien. Auch andere Einflüsse werden zugelassen. Wie derjenige aus dem Land des Lächelns, Thailand. Albrici zollt Siam in Form von “Thai Gemüse” und einem Zitronengrasschaum Tribut, die einige kleine Jakobsmuscheln umspielen. Für St. Jacques dieser Grösse sind die Muscheln von sehr ansprechender Qualität, zart, aber mit angenehmem Biss und ordentlichen Röstnoten. Die Thai-Begleitung ist an und für sich passend, präsentiert sich jedoch etwas gar handzahm. Hier hätte ein bisschen mehr Mut beim Abschmecken weder den Jakobsmuscheln noch dem Gericht geschadet.
Weiter geht’s mit Pasta. Genauer gesagt mit Fagottini mit kandierten Datterinitomaten, Burrata und einer Basilikumemulsion. Wird in einem Restaurant in Italien oder der italienischen Schweiz ein Gericht aus Teigwaren aufgetischt, sind die Erwartungen immer unnatürlich hoch. Wenn man irgendwo richtig gute Pasta serviert bekommt, dann schliesslich hier, nicht wahr? Nun, dieser Teller ist mit Sicherheit nicht schlecht. Die Tomaten versprühen Sonnenschein, die Emulsion ist hocharomatisch, nur die Burrata kommt nicht richtig zur Geltung. Bleiben noch die kleinen Bündelchen. Bei denen ist der Teig für meinen Geschmack ein gutes Stück zu dick geraten. Was sich vor allem dadurch zeigt, dass das Verhältnis von Teig zu Füllung nicht optimal ist. Das lässt sich auch mit grün, weiss und rot nicht kaschieren. Alles in allem ist dieser Gang lediglich gut und nicht wie erhofft grossartig.
Bereits beim Hauptgang angelangt. Aufgetragen wird Wagyu aus dem Tessin mit Gemüse aus dem Ofen und Pommes Chips. Dass ich bereits schon mal Chips als Beilage zu einem Hauptgang im Sternerestaurant serviert bekommen habe, daran kann ich mich nicht erinnern. Öfter mal was Neues. Optisch hat das dünn aufgeschnittene Rind mit dem Wagyu, das mir gemeinhin in Spitzenrestaurants begegnet, relativ wenig zu tun. Auch texturell unterscheidet es sich merklich. Es ist zwar akkurat gegart und sehr zart, jedoch nicht vergleichbar mit dem fettdurchzogenen Verwandten aus Japan. Würde mir dieses Fleisch ohne Vorwissen aufgetischt, ich könnte es nicht als Wagyu identifizieren. So bleibt also in Summe ein anständiges Stück rotes Fleisch mit etwas Gemüse. Mit Sicherheit nicht der Höhepunkt der Kochkunst - und nach dem exzellenten Start heute auch ein wenig enttäuschend - aber es schmeckt.
Beim Käse setzt man in der Locanda Orico auf zwei ausgewählte lokale Erzeugnisse. Beim Weichkäse handelt es sich um einen Formagella di Isone, der geschmacklich an milden Taleggio erinnert. Mit dem Hartkäse zaubert Albirici vor den Desserts noch ein veritables Produkthighlight aus dem Hut. Ein vier Jahre gereifter Manegorio Alpkäse, der Reminiszenzen an die allerbesten Hartkäse der grossen französischen Affineure wie Bernard Antonys Comté weckt. Unfassbar gut.
Als kleines Pré-Dessert wird eine Espuma von weisser Schokolade mit Walderdbeeren serviert. Diese Petitesse ist aufgrund der fast schon überreif wirkenden und dadurch nicht mehr sehr fruchtigen Erdbeeren sowie der enorm süssen Schokolade eine wahre Zuckerbombe. Beim Essen fühle ich mich ein wenig in die Kindheit zurückversetzt, als ich von einem Nachtisch genau ein solches Geschmacksbild erwartete. Doch aus heutiger Sicht fehlt hier definitiv ein auflockerndes Element in Form von Säure. Schlecht ist diese Kleinigkeit freilich nicht, nur ein wenig unausgewogen.
Beim Tiramisù mit Kirschen verhält es sich nicht unähnlich wie beim Gang zuvor. Zwar bringen die Kirschen glücklicherweise von Haus aus mehr Säure mit als die Walderdbeeren, doch auch hier reicht sie nicht aus, um das Dessert richtig ausgewogen zu gestalten. Grundsätzlich schmeckt die Kombination des cremigen, dekonstruierten Tiramisùs mit den qualitativ hervorragenden Kirschen natürlich. Doch spätestens nach drei Löffeln nimmt die Süsse überhand und das Ganze verkommt zu einer ziemlich eindimensionalen Angelegenheit.
Ein Espresso vor der Weiterfahrt muss natürlich noch sein. Dazu wird eine kleine Auswahl von Petits Fours aufgetragen. Die Küche der Locanda Orico hat ihre Stärken eher nicht in den Pâtisserie, soviel ist spätestens jetzt klar.
Obwohl der Lunch aufgrund der überschaubaren Qualität der Süssspeisen nicht gerade auf einem Hoch endete, hat mir Lorenzo Albricis Küche dennoch in grossen Teilen sehr gut gefallen. Gerade die Eröffnungssequenz mit den drei exzellenten Snacks sowie dem ersten Gang wussten komplett zu überzeugen. Auch danach war im herzhaften Teil des Menüs nichts dabei, was man unbedingt tadeln müsste. Die Produkte bewegen sich auf sehr ansprechendem Niveau, das Handwerk ist - abgesehen von der Pasta vielleicht - ebenfalls überdurchschnittlich gut. Auch die Desserts sind grundsätzlich nicht schlecht, wirken jedoch etwas altbacken und plump, wenn man sie mit denjenigen moderner Restaurants vergleicht. Doch ich bin ziemlich sicher, dass ein sehr grosser Teil der hier einkehrenden Klientel genau diese unverfängliche Simplizität zum Schluss des Menüs schätzt. Alles in allem ist das, was Lorenzo Albrici in der Locanda Orico serviert, wohl am besten mit einem Wort zu beschreiben: souverän. Im Guten wie im nicht ganz so Guten. Sollte ich mal wieder in Bellinzona sein, werde ich jedenfalls gerne wieder hier einkehren.
Ristorante Locanda Orico
Via Orico 13
6500 Bellinzona
Schweiz
+41 (0)91 825 15 18
Website
Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Informationen zu unserem Umgang mit Pressekonditionen findest du in den FAQ.