Tantris (Benjamin Chmura) - München

Tantris (Benjamin Chmura) - München

Beginn einer neuen Ära

Legendär. Auf kein anderes deutsches Restaurant dürfte dieses Wort besser zutreffen, als auf dieses. Denn die Geschichte des Tantris ist die Geschichte der deutschen Hochküche. Eckart Witzigmann kochte hier ab 1971 als erster Küchenchef und holte 1974 zwei Michelin-Sterne nach München. Als erstes Restaurant Deutschlands. Nach Witzigmanns Abgang übernahm der viel zu früh verstorbene Heinz Winkler und erkochte drei Sterne für die Stilikone in rot und schwarz, als damals jüngster Küchenchef weltweit. Ab 1991 folgte die Ära von Hans Haas, der bis 2020 durchgehend zwei Macarons hielt.
Nach seiner Pensionierung wurde das Haus sanft renoviert. Denn nicht nur die Köche, die hier ihre Küchenzepter schwingen, sind Legenden, auch das Gebäude selbst ist eine und steht unter Denkmalschutz. Im Herbst 2021 wird wieder eröffnet. Dieses Mal mit zwei Restaurants und Bar. Um die Geschicke des Gourmetteils zu leiten, den ich heute besuche, holt man sich mit Benjamin Chmura den ehemaligen Küchenchef des ebenfalls geschichtsträchtigen Troisgros ins Haus. Fast schon folgerichtig bringt Chmura mit seiner Brigade bereits wenige Monate nach der Eröffnung die angestammten zwei Sterne zurück. Viel mehr kulinarische Historie und Grossartigkeit geht in Deutschland kaum.
Deshalb bin ich auf der Taxifahrt von der Innenstadt nach Schwabing auch ein wenig aufgeregter als sonst. Schliesslich ist die mögliche Fallhöhe eines solchen Restaurants zumindest gefühlt doppelt so hoch wie diejenige eines normalen Zweisterners.
Das nach einem Entwurf des Schweizer Designers und Architekten Justus Dahinden erbaute Gebäude wirkt von Aussen so anachronistisch, dass man sich davon magisch angezogen fühlt. So geht es mir zumindest, als ich endlich zum ersten Mal davor stehe. Drinnen bestimmt ein Mix aus Hummerrot und Trüffelschwarz das einladende und entspannte Bild. Man kann gar nicht anders, als sich in dieser Zeitkapsel augenblicklich wohlzufühlen. Das Auge saugt die besänftigende Atmosphäre förmlich ein und transformiert sie in pure Gelassenheit und Vorfreude.
Die Entscheidung am Tisch fällt schnell auf das Mittagsmenü in sechs Gängen (abends sind acht Gänge möglich). Auch die Wahl zur Premium Weinbegleitung ist in einem Haus wie diesem mit stattlichem Keller nur Formsache. Ein Glas Brut Rosé von Jacques Selosse stimmt an der flüssigen Front schon mal vorzüglich ein. Dann geht es los.

Chmura lässt zu Beginn direkt fünf Amuses auftragen. Von links nach rechts: Mürbteig mit Sardine und Olive - Gougères - Panna Fritta, Fenchel, Radicchio, Forellenkaviar - Rote Bete Papier, französischer Frischkäse, Ingwer - roh marinierte Champignons, Walnusscrème, Petersilie. Alle Snacks sind fein gearbeitet und abwechslungsreich inszeniert. Alles wirkt vertraut und zugänglich, aber auch seltsam verhalten. Die Qualität ist zweifellos vorhanden, nur will der Funke (noch) nicht so richtig überspringen.

Daran ändert auch die Entenleber-Terrine mit Rhabarber, Topinambur und Pedro Ximenez nichts. Bei diesem sechsten und letzten Gruss aus der Küche gibt es aus handwerklicher Sicht eigentlich nichts zu beanstanden. Auch die Kombination aus üppiger Foie, nussiger Knolle und säuerlich-frischem Rhababer sowie knackiger Vinaigrette ist grundsätzlich stimmig. Es lässt sich nicht richtig fassen, was es ist, aber irgendwas fehlt. Was auch bei diesem Teller dazu führt, dass das zwar grundsätzlich gut schmeckt, aber keine Emotionen aufkommen lässt.

Mit dem ersten offiziellen Gang des Lunchs - Grüner Spargel, Bärlauch und Räucheraal - sind die sich immer hartnäckiger manifestierenden Sorgenfalten auf einen Schlag verschwunden. Denn mit dieser ausnehmend hübschen Kreation bewegt man sich urplötzlich nahe der Perfektion. Im Mittelpunkt steht natürlich der grüne Spargel von Robert Blanc. Die Gewächse aus dem Luberon gelten völlig zurecht als mit die besten ihrer Art. Sehr intensiv, saftig und knackig. Umspielt wird das zarte Gemüse von einer neckischen Sauce, die an den klassischen Tonnato-Part eines Vitello Tonnato angelehnt ist, die Chmura allerdings aus Räucherforelle herstellt. Dazu gesellen sich feine Bänder von Bärlauch und schwarzem Knoblauch, gepickelte Zwiebel, Räucheraal sowie fermentierter Bärlauch und Koriandersaat. Wie der Chef diese kräftigen Komponenten einsetzt - und vor allen Dingen wie punktgenau er diese dosiert - ist absolut meisterhaft. Aus einem Guss, ein Rädchen greift nahtlos ins andere. Subtile Rauchnoten, elegant, harmonisch, in sich geschlossen und dabei spannend und mit einem gewissem Schalk versehen.

Nach einem solch superben Gang müssen die nun in schier unermessliche Gefilde geschossenen Erwartungen fast unweigerlich enttäuscht werden. Mein Bauchgefühl sagt mir beim Sepia mit Lardo und Parmesan allerdings, dass das hier und heute nicht der Fall sein wird. Wie schon bei der Sauce zuvor, ist auch dieser Teller mit einem Augenzwinkern an einen anderen Wohlfühlklassiker der italienischen Küche angelehnt: Carbonara. Die Rolle der Pasta nimmt der Tintenfisch ein und erinnert dabei am ehesten an Bavette. Obwohl der Kern durchaus noch etwas Biss hat, ist der Meeresbewohner bewusst deutlich zarter gegart, als es eine Pasta dieser Art jemals sein sollte. Das Gesamtbild ist von reichlich Umami geprägt, ohne dabei in langweilige Gefälligkeit abzudriften. Dafür sorgt neben der erneut nahezu perfekten Feinjustierung die mit Sepiatinte eingefärbte Sauce sowie der Tintenfisch selbst, die beide mit ihren subtilen, jodig-maritimen Akzenten für Spannung und die nötige Finesse sorgen. Fantastisch.

Bei der nun folgenden Rotbarbe mit Artischocke und Oliven kommt der zuvor antizipierte kleine Durchschnaufer. Die Optik lässt bereits erahnen, dass es hier ein wenig rustikaler zu und her geht. Konkret heisst das, dass die Würzung hier deftiger ausfällt. Angefangen bei der an eine Bouillabaisse erinnernde, sehr intensiven Sauce, die der selbst relativ kräftige Fisch natürlich gut verträgt. Auch die Begleitung zeigt sich grobschlächtiger und ziemlich handfest mit reichlich herben Bitternoten. Es handelt sich hierbei zwar erneut um eine Art Weiterentwicklung der mediterranen Hausmannskost, die in einen Fine Dining Kontext übersetzt wurde, ist geschmacklich jedoch deutlich näher am burschikosen Original dran. In Summe zwar sehr gut, aber nicht auf dem Niveau der vorherigen beiden Gänge.

Meine offensichtliche Begeisterung hat sich zwischenzeitlich bis in die Küche rumgesprochen, weshalb der Chef kurzerhand noch einen Einschub serviert. Kalbskopf, Bries und Kapern ist angelehnt an die Königsberger Klopse seiner Grossmutter. Chmura hat die ostpreussische Spezialität in die französische Hochküche übersetzt, sprich, eine gewisse inhärente Deftigkeit bewahrt, auf deren Basis jedoch ein viel raffinierteres Gericht geschaffen. Heiss, krachend knusprig und herrlich saftig ist die perfekt ausgebackene Kalbspraline. Die kräftige, wunderbar säuerlich pointierte Sauce dazu weist die nötige Tiefe auf, um dem Gericht Struktur und Klasse zu verleihen. Soulfood auf einem anderen Level.

Taube, Puntarelle und eingelegte Kirschen bilden gemeinsam mit einem Quittenpüree den Hauptgang. Im Schälchen daneben liegen Linsen sowie Herz und Brust des Vogels. Durch die kräftige Röstung der Taube betört sie mit einem unheimlich verführerischen Duft nach Sommer, Sonne, Grillabend. Und auch in diesem Fall lautet das Motto wieder “reduce to the max”. Ein wenig Bitternis, ein paar fruchtige Einsprengsel, dazu eine wiederum vorzügliche Sauce. Diese wenigen Komponenten unterstützen das kernige, perfekt gegarte Geflügel bestmöglich. Klingt simpel und unspektakulär? Mag sein. Ist aber nicht nur absolut köstlich, sondern tatsächlich ein unvergesslicher Kracher und eines der besten Taubengerichte, die ich jemals gegessen habe.

Auftritt von Pâtissier Maxime Rebmann, der mit Kopfsalat, Wacholder und Zitronenthymian sanft in die süsse Welt des Tantris überleitet. Ich bin generell ein Freund von Gemüsedesserts, auch wenn diese in weniger geübten Händen durchaus etwas gar plakativ daherkommen können und dabei das Wichtigste aus den Augen verlieren: den Wohlgeschmack. Nicht so hier. Rebmann schafft eine sehr leise, dabei vielschichtige und ungemein spannende Nachspeise, der eine regelrecht ätherische, positiv benebelnde Qualität innewohnt. Grossartig.

Mit Erdbeere, Milchreis, Vanille und Madeira setzt der Pâtissier sogar noch eins drauf. Nur schon der Duft der Erdbeeren ist kaum zu beschreiben. Und der erste olfaktorische Eindruck täuscht nicht. Ganz im Gegenteil zeigt sich der eigentliche Geschmack des Rosengewächses so unheimlich expressiv, dass es fast schon unwirklich kitschig wirkt. Nur schon für diese Erdbeeren hat sich die Reise nach München gelohnt. Doch damit ist nicht Schluss. Denn das Zusammenspiel der prägnanten, ausladenden Frucht mit der molligen Vertrautheit des Milchreises und der Vanille ist ebenso phänomenal wie der punktgenaue Einsatz des Madeira. Diese komplexe Aromatik zwischen gerösteten Kaffeebohnen, Schokoladenanklängen und Honig rundet diese grandiose Kreation perfekt ab. Nebenbei beschert sie mir erneut einen absoluten Hochgenuss und gehört in meine Hall of Fame. Der Service erwähnt beiläufig, dass in diesem Meisterwerk kein zusätzlicher Zucker zum Einsatz kommt, was das Ganze noch ein wenig beeindruckender macht.

Die Petits Fours zum Espresso esse ich zwar, bin aber von den Eindrücken der letzten drei Teller noch kompett geplättet.

Was für ein Lunch! Nach einem gemächlichen Auftakt hat die Mannschaft um Küchenchef Benjamin Chmura und Pâtissier Maxime Rebmann quasi einen Knaller nach dem anderen rausgehauen (einzig die Rotbarbe fiel ein wenig ab). Gerade wenn man unerklärlich diffuse und hohe Erwartungen hat, die über die eigentlichen Auszeichungen hinausgehen, kann die Enttäuschung umso schwerer wiegen. Doch diese zwei Sterne sind absolut leistungsgerecht - und lassen Luft nach oben.
Im Grunde geht es in einem Restaurant wie dem Tantris sowieso gar nicht mehr nur um Sterne, sondern einfach darum, möglichst grandios zu essen. Und dabei eine noch grandiosere Zeit zu haben. Diese Möglichkeit bieten heutzutage leider nicht mehr sehr viele Restaurants. Das Tantris ist aber auch nach 50 Jahren noch ein zeitloser Ort der gepflegten Völlerei, den man unbedingt erleben muss. Die Geschichte in Hummerrot und Trüffelschwarz wird weiter geschrieben. Und sie bleibt mit Sicherheit legendär.


Brut Rosé, Jacques Selosse, Champagne, Frankreich
Albariño ’III Ano’, Bodegas Fefiñanes, Rías Baixas, Spanien 2015
Meursault ’Perrières’ 1er Cru, Domaine Vincent Girardin, Burgund, Frankreich 2017
Pouilly-Fumé ’Silex’, Louis-Benjamin Dagueneau, Loire, Frankreich 2018
Les Tosses, Terroir Al Limit, Priorat, Spanien 2012
Jurançon ’Jardins de Babylon’, Dagueneau & Potrat, Sud-Ouest, Frankreich 2013
Exquise, Jacques Selosse, Champagne, Frankreich


Tantris Maison Culinaire
Johann-Fichte-Straße 7
80805 München
Deutschland
+49 (0) 89 36 19 59 – 0
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