Pierre (Jacky Tauvry) - Hong Kong

Pierre (Jacky Tauvry) - Hong Kong

Änderungen der Flugzeiten sind eigentlich immer mit Ärger verbunden. Als ich von Air China die Meldung erhalte, dass mein Flug von Hong Kong nach Festlandchina kurzfristig um zwei Stunden nach hinten verschoben wurde, hält sich meine Freude zuerst in Grenzen. Doch ziemlich schnell wird klar, dass diese Verschiebung nicht nur verlorene Zeit am Ziel bedeutet, sondern auch gewonnene Zeit in Hong Kong. Es gibt definitiv schlimmere Orte um ein paar Stunden totzuschlagen. Plötzlich schiessen die Verbindungen zwischen den Synapsen hin und her. Reicht die Zeit für einen Sterne-Lunch? Wo war ich noch nicht? Kriege ich so spontan überhaupt noch einen Tisch? Zeit genug für einen nicht allzu ausgiebigen Lunch ist vorhanden. Noch nicht besuchte Restaurants gibt’s in dieser Essmetropole zur Genüge. Nur mit dem freien Tisch ist es so eine Sache. Gleich die ersten drei meiner favorisierten Lösungen (Lung King Heen, T’ang Court, Caprice) sind voll. An einem Mittwochmittag, wohlgemerkt. Mein vierter Anruf gilt dem zweifach besternten Pierre im Mandarin Oriental. Ein Tisch in 20 Minuten? Kein Problem? Na dann, nichts wie los!
Das Pierre gehört, man kann es erahnen, zum Imperium von Pierre Gagnaire. Er gehört gemeinsam mit Joël Robuchon und Alain Ducasse zu den wohl bekanntesten und meistverehrten französischen Köchen der Generation nach Bocuse, Haeberlin und Co. Was nicht zuletzt auch seinem Expansionsdrang geschuldet ist. Mehr als ein dutzend Etablissements betreibt er mittlerweile zwischen Las Vegas und Seoul. Dass es mal soweit kommen würde, war nicht unbedingt absehbar. Obwohl 1996 über seinem Restaurant in Saint-Etienne drei Sterne leuchteten, ging Gagnaire pleite. Dadurch erlangte er unerwartete Berühmtheit als erster Drei-Sterne-Koch Frankreichs, der den geschäftlichen Kollaps auf dem vorläufigen Zenit seiner Karriere erleiden musste. Keine sechs Monate später eröffnete er in Paris an der 6 Rue Balzac ein neues Restaurant - zwei Jahre nach der Eröffnung holte er sich die drei Macarons zurück und legte damit den Grundstein für seine zukünftige Expansion. 
Nach dem kleinen Exkurs in Gagnaires Vergangenheit geht’s nun zurück in die Gegenwart und an den Tisch im 25. Stock des Mandarin Oriental mit Blick auf den Hafen. Eine Auswahl aus der übersichtlichen Karte ist schnell getroffen, das Eintauchen in die Welt von Pierre Gagnaire kann beginnen.

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Ein Trio von Snacks bestehend aus einem trockenen Hummus-Käse-Keks, einer Art Gin Tonic Macaron sowie einem Apfel-Shiso-Millefeuille eröffnet den Lunch. Alle drei Petitessen vereint ein seltsam verhaltener Geschmack sowie der Eindruck fehlender Frische und Präzision. Ein gelungener Auftakt sieht anders aus.

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Erster Stop auf dem Weg in höhere kulinarische Sphären ist eine Zezette Suppe. Diese Kräutersuppe ist ein Klassiker von Gagnaire, von der es unzählige unterschiedliche Inkarnationen gibt. Heute wird sie mit pochiertem Ei „Hervé This“, Pfifferlingen und konfierter Melone serviert. Die Zugabe von Melone klingt ein bisschen wild, entpuppt sich aber als Volltreffer. Mit ihrer nur dezenten Süsse erweitert sie das Geschmacksspektrum um eine sinnvolle Facette. Viel prägender jedoch ist die Umami-Wucht und Säure, die ihr innewohnt und etwas an eine vollreife, angetrocknete Tomate erinnert. Gemeinsam mit den Pilzen und dem Ei wirkt das angenehm opulent und rund. Klasse.

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Hinter dem kryptischen Namen 9 Conduit Street Biscuit versteckt sich eine Referenz an Gagnaires Londoner Restaurant Sketch, welches an dieser Adresse beheimatet ist. Worum es sich genau handelt, weiss ich beim Bestellen noch nicht. Wenn ich solche Dinge auf der Speisekarte sehe, ziehen sie mich magisch an. Nun, was ist es denn? Als der Teller vor mir liegt rieche ich Fisch und sehe sowas wie ein Soufflé. Der Service löst auf und bestätigt meine Annahmen. Es handelt sich um ein Soufflé von geräuchertem Schellfisch, das von einer Buttersauce und grünem Gemüse begleitet wird. Abgesehen von zwei einsamen Bohnen sehe ich zwar kein weiteres Gemüse, aber seis drum. Die Buttersauce macht ihrem Namen alle Ehre, retten kann er diesen Gang aber auch nicht. Dies steht bereits nach dem zweiten Bissen fest. Einerseits riecht das Ganze nicht nur penetrant fischig, sondern schmeckt auch so - andererseits fehlt es bei der vielen Butter an einem dringend benötigten Gegenpol in Form von Säure. Nach wenigen Gabeln wandert der Teller halbvoll zurück in die Küche.

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Noir de Bigorre Schwein mit Salbei, Sauerampfer Crème, Himbeere, Gaufrette Kartoffeln, Salicorn und Kräutersalat spielt da in einer gänzlich anderen Liga. Hervorragende Fleischqualität, kräftig im Geschmack, saftig gekocht. Sehr spannend ist auch die abwechslungsreiche Einfassung, die das Schwein, je nach Besteckbelegung, mal durch ein ausgeprägtes Säurespiel oder durch eine herb-fruchtige Note ergänzt. Man verlässt mit diesem Gericht definitiv die Komfortzone vieler Esser und erlaubt sich bewusst Ecken und Kanten, will den Gast ein wenig kitzeln. Genauso stelle ich mir Gagnaires Kreationen vor. Sehr gut. Und endlich schielt man zumindest mit einem Auge auf die zwei Sterne.

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Der zweite Hauptgang dreht sich um Huhn, ein Sommer Chutney, Spinat Gnocchi, Salers Käse sowie eine Sauce Diable. Was optisch suggeriert wird, findet sich auch im Geschmack wieder: simpler, süffiger Comfortfood. Alle Teile dieses Gerichts sind akkurat gearbeitet - das Geflügel ist zart, die Gnocchi fluffig, die Sauce pikant - und die Kombination passt grundsätzlich ganz gut. Auf Dauer jedoch zeigt sich das Sommer Chutney etwas zu dominant und folglich wirkt das Ganze dann ein wenig zu süss. In Summe ganz lecker, dennoch hat das mit zwei Sternen nach wie vor rein gar nichts zu tun.

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Ein kleiner Sprung in die Dessertwelt muss noch sein, bevor es zum Flughafen geht. Frischer Pfirsich mit Zitronenverbene, cremige Mandelmilch und Sauternes Gelée ist sicherlich nicht der Höhepunkt des heutigen Lunchs. Dazu fehlt es an Finesse und Harmonie. Hauptsächlich kann man das Problem am Süssweingelée festmachen, das viel zu grobschlächtig umgesetzt und portioniert ist und den Rest unter sich begräbt.

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Pralinen zum Espresso gibt’s zum Schluss auch noch.

Das war ein sehr, sehr überschaubarer Lunch. Der Küche ist zwar kein grösserer Lapsus unterlaufen, doch einer Auszeichnung wie zwei Michelin Sternen wird man natürlich nicht dadurch gerecht, mehr oder weniger fehlerfreie Gerichte auf den Tisch zu bringen. Doch wie so oft lässt sich der negative Gesamteindruck nicht nur an einem Problem festmachen. Einmal ist es die Uhrzeit an sich. Die meisten Gäste wollen oder können mittags keine grossen Menüs mehr essen und sich kulinarischen Exzessen hingeben. Restaurants wie das Pierre reagieren entsprechend, offerieren sowas wie einen “Express Lunch”, servieren reduzierte Versionen der Abendkarte oder sogar gänzlich andere Speisen. In gewissem Masse ist das natürlich nachvollziehbar. Den essverrückten Gast, der extra hierher kommt, um Zwei-Sterne-Küche zu geniessen, kann das jedoch ziemlich vor den Kopf stossen. Ein Hinweis, dass zur Mittagszeit andere, simplere Gerichte auf der Karte stehen, würde da schon helfen. Gerne bereits auf der Website, nicht erst im Restaurant. Im Pierre gibt es keinen entsprechenden Hinweis. Bei Michelin sowieso nicht. Klar, können die niedrigeren Preise als ein Indikator verstanden werden. Auch wenn man die Menüs vergleicht, sieht man natürlich Unterschiede. Doch eine Recherche vorauszusetzen und dem Gast aufzubürden, der sich einfach an der Bewertung des Michelin orientiert und ein Mahl auf entsprechendem Niveau erwartet, ist, um es nett zu formulieren, suboptimal. Was zum letzten Problem führt: der Bewertung durch den grossen Guide. Beurteilen kann ich natürlich nur das, was ich gegessen habe. Davon bewegte sich lediglich die Suppe und das Schwein auf Sterne-Niveau. Ein Stern, wohlgemerkt. Zugegeben, die Bewertungsproblematik ist in Hong Kong und China sicherlich ausgeprägter als anderswo, doch da der Guide nach wie vor steif und fest behauptet, dass weltweit dieselben Qualitätskriterien gelten, macht er sich mit der Auszeichnung des Pierre und vieler anderer Lokale Stück für Stück weniger glaubwürdig.


Pierre
im Mandarin Oriental Hong Kong
5 Connaught Road Central
Central
Hong Kong
China
+852 2825 4001
Website