Nihonryori RyuGin (Seiji Yamamoto) - Tokio

Der singende Drache
Tokio bei Nacht ist magisch. Ein endloses Häusermeer zwischen grellen Neonfarben und dunkelblau in schwarz verlaufende Gassen, die so viele Geheimnisse zu lüften versprechen.
Ich sitze im Taxi vom vibrierenden Shinjuku ins gediegene Yurakucho. Lasse diese neue, noch verborgene Welt ausserhalb des Fensters auf mich wirken. Das Andere, das Neue, das Unerwartete, das Unbekannte, zieht mich für sechs Wochen nach Japan. Für meinen ersten Berührungspunkt mit japanischer Hochküche in Nippon wähle ich mit dem Nihonryōri RyūGin deshalb bewusst ein Restaurant, das mir zumindest theoretische Vergleichsmöglichkeiten bietet. Vor längerem habe ich Seiji Yamamotos mittlerweile geschlossenem Tenku RyūGin in Hongkong gegessen. Das Schwesterrestaurant hatte seinerzeit zwei Michelinsterne und hat mich damals mit einem in grossen Teilen fantastischen Menü begeistert. Als Tüpfelchen auf dem i kam noch die Location dazu, im 101. Stock des International Commerce Centre in West Kowloon auf 399 Metern Höhe, mit Blick auf die Skyline der Hafenmetropole an der Mündung des Perlflusses.
Yamamoto scheint ein Faible für Höhen zu haben, denn sein Hauptrestaurant belegt den gesamten obersten Stock eines Gebäudeteils des Tokyo Midtown Hibiya. Der Gebäudekomplex beherbergt neben Restaurants auch diverse Shops, mehrere Kinos und unzählige Büros in seinen 192 Metern in den Himmel hoch ragenden Wolkenkratzern. Für ungeübte Erstbesucher wie mich gilt es erst mal, den richtigen Lift zu finden. Denn nur einer führt tatsächlich zum Restaurant. Im 7. Stock angekommen, erwartet mich eine überdimensionierte Wartehalle, in der man locker ein eigenes Thekenrestaurant unterbringen könnte. Ganz hinten sind neben der Michelinplakette mit den drei Macarons noch eine Glasvitrine mit einem Küchenmesser und einigen Muscheln ausgestellt. Daneben die zurückhaltend beschrifteten Vorhänge, Noren genannt, die den Weg zum Restaurant weisen. Eine überaus freundliche Dame empfängt mich und begleitet mich zu meinem Platz am Fenster. Wäre es nicht dunkel, hätte man von hier einen Blick auf den Kaiserlichen Garten.
Es gibt nur ein Menü, was lediglich noch die Frage nach den passenden Getränken offen lässt. Mir ist nach Abwechslung, weshalb ich mich für die Weinbegleitung entscheide. Der Preis von ¥70’000 (etwas über 400 Schweizer Franken) erscheint mehr als stattlich, doch fast alle Weine sind gereifte Preziosen aus dem obersten Regal. Das erste Glas, Henri Giraud Aÿ Grand Cru Brut RyūGin Edition, lässt nicht lange auf sich warten. Zwischenzeitlich konnte ich mir auch die Hände mit einem dampfend warmen Tuch reinigen. Eine Sitte, die meines Erachtens in jedem gehobenen Restaurant gepflegt werden sollte. Das Sommermenü mit dem klingenden Titel "Die Vielfalt der japanischen Natur geniessen" kann kommen.
Bevor das eigentliche Menü beginnt, wird eine Chawanmushi mit Garnele serviert. Geradezu phänomenal ist der Eierstich, der sich wie ein warmer Pudding aus Kindertagen teilen lässt. Den Brückenschlag zur Garnele macht das maritime Umami der Dashi. Sie akzentuiert die inhärente Süsse des Krebses und deren dezente Jodigkeit. Ein Eindruck, der durch die herrlich puristische Garnelenbouillon noch verstärkt wird. Ein unerwarteter Kontrapunkt wird in Form von potenten süsssauren Fruchtstücken gesetzt. Ich vermute Umeboshi, werde aber auf Nachfrage beim Service korrigiert. Tatsächlich handelt es sich um getrockneten Pfirsich. Dieser kleine, aber effektive Kniff macht aus einem guten ein hervorragendes Gericht.
Der erste Gang dreht sich um Tempura. Im zwar knusprigen, aber vergleichsweise dicken und daher zu mächtigen Teig befindet sich japanische Venusmuschel (Hamaguri). Obenauf liegt ein ordentlicher Klecks Wasabi und etwas Meeresalgen, ebenfalls frittiert. Zum überaus wuchtigen Gesamteindruck trägt auch die Textur der Muschel bei, die relativ zäh ist. Ich gehe davon aus, dass dieses Mundgefühl so gewollt ist, mich überzeugt es allerdings trotz der unverkennbaren Güte der Muschel nicht.
Ganz anders ist die unscheinbare, milchige Flüssigkeit im Becher. Gemäss Menü eine reichhaltige Brühe, ist sie das und noch so viel mehr. Unglaublich klar und pur schmeckt sie nach Meer und Muschel. Vervollständigt wird die Suppe durch die Beigabe von Yuzu, die eine Qualität hat, wie ich sie nie zuvor gekostet habe. Sie benebelt regelrecht meine Sinne mit ihrer herben, ausladenden Frische und aromatischen Komplexität. Wie ein Spaziergang durch einen Zitrushain in voller Blüte. Trotz ihres intensiv-berauschenden Dufts agiert sie dank der punktgenauen Feinjustierung subtil und dient vornehmlich als belebender Kick für die Suppe. Diese Brühe ist ein unscheinbares kleines Meisterwerk.
Es folgt "Sommergemüse – eine Vielzahl von Ansätzen auf einem Teller", bestehend aus weissem Spargel, Babymais, Saubohnen, ungesalzenem, getrocknetem Schinken und Somen (dünne Nudeln aus Weizenmehl). Unter Sommergemüse habe ich mir eine Kreation wie das Gargouillou von Michel Bras vorgestellt. Intensives, knackiges Gemüse auf dem Höhepunkt seiner saisonalen Reife. Allerdings ist auf dem Teller von sommerlicher Pracht nichts zu schmecken. Der Spargel ist gut, aber ebenso wie die Bohnen kein Augenöffner. Am ehesten weiss der aromatische Babymais zu gefallen, aber so richtig vermag keines der wenigen Gemüse zu scheinen. Der Sud schmeckt nach ungesalzenem Spargelwasser und der Schinken erinnert an Trockenfleisch von nicht gerade einladender Provenienz. Gut möglich, dass ich gewisse Aspekte und Nuancen dieser Kreation nach erst einigen Tagen in Japan noch nicht richtig einordnen kann. Vielleicht könnte ich es irgendwann besser verstehen, falls es tatsächlich überhaupt mehr zu verstehen gibt. Dadurch bleibt am Ende nur ein fader und unrunder Teller, der weder seine Beschreibung wiederspiegelt noch anderweitig zu überzeugen vermag.
Auf den nun folgenden Gang freue ich mich besonders, da es meine erste Begegnung mit Ayu ist. Ayu ist der einzige Fisch in seiner Gattung Plecoglossus. Er gilt in Japan als besondere Delikatesse, der während der Fangsaison (Juni–September) in nahezu allen Kaiseki-Menüs auftaucht. Aufgrund seiner besonderen Struktur wird er gemeinhin im Ganzen zubereitet und verzehrt. Oftmals, wie auf dem Bild zu sehen, so inszeniert, als ob er sich im Wasser fortbewegt. Yamamoto setzt heute auf Baby-Ayu, der keine 10 Zentimeter lang ist. Dazu gibt es lediglich ein eingelegtes Radieschen. Der Fisch ist erwartungsgemäss appetitlich knusprig und passt auf einen Happs in meinen Mund. Beim ersten herzhaften Zubeissen ergiesst sich die Bitternis von Leber und Magen in meinen Mund. Sie wirkt zuerst wie ein Shot eines Bitterlikörs, vermischt sich dann aber mit dem zarten, süsslichen Fischfleisch (auf Englisch wird der Ayu als Sweetfish bezeichnet) zu einem runden Geschmacksbild. Ein lebensveränderndes Erlebnis ist das zwar nicht, aber es schmeckt sehr gut. Ob ich das Radieschen dazu hätte essen sollen oder ob es quasi als Rachenputzer dient, weiss ich nicht. Was ich allerdings weiss: Das ist ganz locker eines der besten Radieschen, die ich jemals gekostet habe. Krachend knackig, saftig, zartbitter, mit pointierter, aber perfekt dosierter Schärfe. Herrlich.
Fordernd für viele westliche Gemüter, inklusive mir, dürfte die gedämpfte Suppe sein. Sie wartet mit einer Einlage auf, die es in sich hat: Haifischflosse, Suppon (japanische Weichschildkröte), Wellhornschnecke, Walzunge. Unproblematisch sind hingegen der Bambussprossendumpling sowie der köstliche Donko Shiitake-Pilz. Ich habe alle tierischen Zutaten bereits mal in anderen Restaurants probiert. Ausser der Wellhornschnecke, der man beispielsweise auch in Frankreich und Belgien immer wieder mal begegnet und die ich gerne mag, kann ich mit ihnen wenig anfangen. Haifischflosse und Schildkröte werden neben der in Ostasien beliebten Textur vor allem auch aufgrund angeblich positiver Auswirkungen auf die Libido und (sexuelle) Kraft gegessen. Auch wenn vor allem die Schildkröte und die Walzunge reich an Proteinen, Vitaminen, Mineralien und Aminosäuren sind, so gibt es wohl keine gesicherten Erkenntnisse, die diese kulturellen Mythen als wissenschaftlich belastbar belegen. Obwohl mir die teilweise kruden Beschaffungsmethoden dieser Delikatessen bewusst sind, verzichte ich bei Besuchen in Restaurants generell darauf, irgendwelche Abneigungen oder Einschränkungen zu kommunizieren, in der Hoffnung, dass ich dadurch die Intention des Kochs so unverfälscht wie möglich erleben kann. Erst probiere ich die Suppe. Sie ist kraftvoll, balanciert, köstlich. Die Einlagen sind teilweise gelungen (Dumpling, Pilz, Schnecke), jedoch werde ich vor allem den Hype um die Haifischflosse nie verstehen. Schlussendlich ist das einfach ein mehr oder weniger geschmackloser Klumpen Kollagen. Während die Schildkröte annehmbar schmeckt, verschlucke ich mich an der Walzunge beinahe. Sie ist so gross portioniert und so zäh, dass ich sie schlussendlich unverrichteter Dinge nur noch runterschlucken kann. Auch wenn die Suppe wirklich hervorragend ist, bin ich mir sicher, dass man diese Qualität auch ohne die teilweise fragwürdigen Produkte hinbekommt.
Meine Vorfreude auf den ganz lapidar betitelten Gang "das heutige Sashimi" ist ausgesprochen hoch. Einerseits, da es mein erstes Sashimi in Japan ist. Andererseits habe ich das Sashimi aus dem Schwesterrestaurant in Hongkong in bester Erinnerung. Aufgetragen werden echter Steinfisch und Tintenfisch. Dazu gibt es Gurke, Berg-Yamswurzel und Wasabi sowie Sojasauce, Salz und Sudachi. Erst widme ich mich dem schneeweissen, durchsichtig schimmernden Weichtier. Während es geschmacklich nichts auszusetzen gibt, ist die Textur weit von der butterzarten Erinnerung an Hongkong entfernt. Sehr gut ist das aber immer noch. Beim Steinbeisser, der zuvor als steinerne Skulptur am Tisch präsentiert wurde – und bei dem es sich um einen hochgiftigen Fisch handelt, wie ich später herausfinde –, wiederholt sich leider dasselbe Problem wie zuvor bei der Walzunge. Das Fleisch ist viel zu üppig portioniert und überraschend zäh. Auch in diesem Fall bleibt mir keine andere Option, als einen erheblichen Brocken ganz runterzuschlucken. Da ich keine Erfahrung mit diesem Fisch habe, muss ich davon ausgehen, dass die Textur wohl einfach so ist. Ebenso muss man der Küche unterstellen, dass das so gewollt ist. Dennoch lässt mich das ein wenig ratlos zurück. Zum Glück erweisen sich vor allem die Yamswurzel und die Sudachi als absolut betörend. Wenigstens etwas, woran man sich richtig erfreuen kann.
Der Steinfisch feiert in einem unangekündigten Zwischengang einen weiteren Auftritt, der ungleich erfolgreicher ist. Links im dunklen Schälchen findet sich sein Rogen in einer herausragend guten Dashi. Rechts im weissen Schälchen sind der gekochte Magen und die Haut des Fischs gemeinsam mit einer überraschend scharfen Ichimi Togarashi. Nicht zu verwechseln mit der Gewürzmischung Shichimi Togarashi. Ein Buchstabe, der einen grossen Unterschied macht. Shichi steht für sieben, während Ichi eins bedeutet. Und die Eins bezieht sich auf die einzige Zutat in Ichimi Togarashi: gemahlene Chili. Magen und Haut wirken gemeinsam mit der Chili geradezu wild, überbordend, als ob sie aus dem Korsett der japanischen Zurückhaltung ausbrechen müssten. Grossartig. Auf der anderen Seite ist die pointierte, klare Aromatik von Meer und kräftigem, elegantem Umami. Ein ungleiches Duo, das begeistert.
Während die Schärfe immer noch am Gaumen nachklingt, steht bereits der nächste Gang vor mir. Zwei prächtige Stücke Bafun-Uni liegen auf einem Stück Aubergine. Das Gemüse wurde sanft in Shrimp-Dashi gegart und hat sich dabei mit reichlich maritimem Umami vollgesogen. Die Aubergine verflüchtigt sich förmlich beim ersten Kontakt und flutet gemeinsam mit den Seeigelgonaden meinen Gaumen. Durch die Dashi wird die natürliche Süsse des Seeigels akzentuiert, was ihm eine zusätzliche Opulenz verleiht, ohne dabei fett zu wirken. Im Hintergrund schimmert der letzte Funke der Aubergine mit hintergründigen Bitternoten ebenso durch wie die florale Schärfe des Wasabi. Das Geschmacksbild liest sich vertraut, schmeckt aber andersartig und in dieser Kombination in gewissem Sinne auch neu für mich.
Dass nach dem Tempura zu Beginn erneut ein frittiertes Produkt im Mittelpunkt steht, empfinde ich als ungewöhnlich. Aber die Kaiseki-Tradition sieht gegen Ende des herzhaften Menüteils in der Regel "Agemono" (lose übersetzt "frittiertes Gericht") vor. Eingehüllt in eine perfekt hauchdünne und krachend knusprige Kruste aus Pankomehl sind zwei stattliche Stücke Abalone. Dazu gesellen sich Weisskohl, Spargeln und eine Sauce aus der Leber der Meeresschnecke. Qualitativ ist die Abalone exzellent: buttrig, festfleischig, sanft süsslich, subtil jodig. Der Eigengeschmack wird durch die kräftige Sauce betont, während der bittere Unterton gleichzeitig auch die Üppigkeit kontrastiert. Man hätte den durchweg ausgezeichneten Beilagen durchaus noch mehr Platz einräumen können. So bewegen sie sich klar im Hintergrund und schaffen es nicht, eine absolute Harmonie herbeizuführen. Eine Randnotiz: Von den Beilagen ist vor allem der Spargel aus Hokkaidō bemerkenswert. Was verwundert, da wohl derselbe Spargel beim "Sommergemüse" zuvor verwendet wurde und dort keine Akzente setzen konnte.
In einem eigens für das Restaurant hergestellten Holzzylinder, der genau auf die Grösse einer Staub-Cocotte eingepasst wurde, wird auf Holzkohle gegrillter Unagi (Süsswasseraal) von Kyosui serviert. Kyosui ist eine Firma aus der Präfektur Shizuoka, die sich seit Ende der 1950er-Jahre auf gezüchtete Aale spezialisiert hat. Einige Quellen behaupten, dass die Kyosui-Aale lediglich an ca. 30 Restaurants in ganz Japan verkauft werden. Wenn das stimmt, ist es eine richtige Rarität. Geschätzt wird er vor allem dafür, dass sein Geschmack und seine Textur wohl an die wild lebenden Exemplare (die vom Aussterben bedroht sind) herankommen soll. Unter dem Aal liegt erneut eine Chawanmushi sowie abermals Aubergine. Darauf Wasabi und Sanshōblätter. Texturell bewegt sich das in heterogenen, weichen Gefilden. Auch der Aal hat keinerlei Biss mehr, sondern schmilzt regelrecht dahin. Dadurch wirkt das Ganze, wie die Abalone zuvor, etwas schwerfällig. Hier wirken die unscheinbaren Blätter des japanischen Bergpfeffers jedoch wunderbar: vegetabil-florale Schärfe, zitrische Frische – genau das braucht es. Selbst wenn texturell nur minimaler Biss besteht, kommt vor allem der Aal noch besser zur Geltung. Dessen verhältnismässig subtiles Aroma würde sich ansonsten ein wenig zu verlieren drohen. So ist das in Summe dann doch mehr als nur köstlich.
Als Frischmacher vor dem Hauptgang soll die Kombination aus Tofu, Edamame und Olivenöl dienen. Erfrischend ist das für mich in keiner Weise, eher das Gegenteil. Jedoch ist die Güte der einzelnen Zutaten und die Feinabstimmung so umwerfend, dass man auch nicht nach Erfrischung suchen muss.
Megumi-Ente aus Kyōto mit Murakoshi-Bambus und Morcheln liegen auf der Schieferplatte vor mir. Links daneben Wasabi (auf der klassischen Reibe, die mit Haihaut bespannt ist), ein Kartoffelpüree sowie eine Entenconsommé. Während die Optik der perfekt rosé gebratenen Brust eine knusprige Haut suggeriert, ist sie tatsächlich eher gummig. Auch wenn ich knusprige Geflügelhaut über alle Massen schätze, ist das der einzige Wermutstropfen. Das Fleisch wirkt geradezu kernig, wie von einem Wildvogel. Dieser Eindruck wird durch die etwas kaubedürftige Garung verstärkt. Etwas Salz und Wasabi dazu, mehr bräuchte es nicht, um nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen. Was ziemlich wörtlich zu nehmen ist. Denn die getrennte Anrichteweise scheint hier gustatorisch Programm zu sein. Dass der ohnehin schon zurückhaltende Bambus (erneut) als frittiertes Element inszeniert wird, entbehrt für mich jeglicher Logik. Man schmeckt nichts vom Süssgras, und Frittiertes hatte ich nun wirklich zur Genüge. Die Morcheln paart man am besten mit dem zähflüssigen, aber geschmacklich hervorragenden Püree, was dann auch gut zur Ente passt. Der Vogel selbst hat mit der tiefen, komplexen, handwerklich makellosen Suppe noch einmal einen würdigen finalen Auftritt. Dieses Elixier ist nahe an der Referenzklasse.
Naruto-Meerbrasse-Reis beschliesst den herzhaften Teil des Abends. Naruto bezieht sich in diesem Fall nicht auf den bekannten Animecharakter, sondern auf eine Knochendeformation bei Fischen. Der Legende nach sind Fische, die diese Grätendeformation aufweisen, extrem hochwertig und sollen entsprechend hervorragend schmecken. Das mag zwar alles wahr sein, lässt sich aber bei diesem Exemplar nicht mehr beurteilen. Eindringliche Rauchigkeit verbindet sich mit trockenem Fischfleisch zu einer pappigen Masse. Der Reis kommt kaum zur Geltung. An dieser Stelle hätte ich mir einfach nur eine Schale puren, dampfend-warmen Reis gewünscht, der die Papillen für die Desserts wieder einnordet.
Erdbeere ist das Thema des ersten Desserts. Im Glas ist eine Art Smoothie mit eingelegten Erdbeeren. Auf dem Tischgrill liegt ein Erdbeerspiess. Unten auf dem Teller gibt es dehydrierte, gepulverte Erdbeere zum Stippen. Wie es der Zufall will, habe ich gerade an diesem Morgen japanische Erdbeeren in einem bekannten Kaufhaus in Shinjuku gekauft. Diese "Depaato", wie sie auf Japanisch genannt werden, sind bekannt für ihre Lebensmittelabteilungen im Untergeschoss. Dort findet man beispielsweise die lokalen Melonen, für die gerne auch mal ein dreistelliger Betrag aufgerufen wird (nein, nicht in Yen, sondern in Euro oder Schweizer Franken). Jedenfalls waren die Erdbeeren, die ich dort gekauft habe, klar besser als diejenigen, die vor mir stehen. Den Rest kann man sich dann denken. Die leise Enttäuschung, da die Produktqualität nicht begeistert. Der Inhalt im Glas, der deswegen wie ein reguläres Erdbeerjoghurt daherkommt, das man auch schon mal besser gegessen hat. Schade.
Viel besser macht es die Mango "heiss/kalt". Ein ähnlich konzipiertes Dessert ist mir noch aus Hongkong in Erinnerung, damals allerdings mit Apfel anstelle der Mango. Da ist einmal eine Art Chutney (erhitzt auf 99 °C), das mit bissfesten Stückchen der Frucht aufwartet. Darunter liegt ein Eis, das hier als Candy bezeichnet wird und mit Stickstoff auf −196 °C gefroren wurde. Die Frucht ist absolut perfekt gereift und präsentiert sich fast schon wollüstig tropisch und exotisch. Wie eine laue Nacht am Meer unter Palmen. Getragen wird sie dabei von einer pointierten Säure, die für optimales Gleichgewicht sorgt. Zusätzlich das anregend zwischen heiss und kalt oszillierende Mundgefühl. In seiner auf den Punkt gebrachten Simplizität macht es alles richtig. Besser geht es kaum.
Traditionell beschliesst eine Schale mit giftgrünem, relativ dickflüssigem Matcha das Mahl.
Auch wenn mir heute Abend nicht jedes Gericht grösstmöglichen Genuss beschert hat, waren doch einige unvergessliche Momente dabei, die sich für immer in meine Synapsen eingebrannt haben. Zusätzlich hat das RyūGin einige meiner Annahmen hinsichtlich Japans Hochküche bestätigt. Man muss sich reinessen und reinfühlen. Ein Gespür für ihre Eigenheiten und spezifischen Nuancen entwickeln. Sie dürfte weltweit eine der wenigen Küchen sein, die man sich nicht hauptsächlich auf einer viszeralen Ebene erschliesst, sondern die auch mindestens ebenso viel kognitive Verarbeitung erfordert.
Es gibt noch unheimlich viel zu lernen und noch mehr zu entdecken. Soviel ist nach meiner ersten Begegnung mit Kaiseki-Küche in Japan klar. Das nächste Essen wartet bereits.
Die Weinbegleitung:
Henri Giraud Aÿ Grand Cru Brut RyuGin Edition
Château Cos d'Estournel Blanc 2007
Domaine de Montille Corton-Charlemagne 2013
Hiroki Junmai Daiginjo
Georges Lignier Bonnes-Mares 1994
Isojiman 28 Nobilmente
Château Haut Brion 1999
Château d'Yquem 1995
Nihonryori RyuGin
7F Tokyo Midtown Hibiya
1-1-2 Yurakucho
Chiyoda-Ku
Tokyo 100-0006
Japan
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