Die Stadthalle (Nenad Mlinarevic) - Zürich
Der Mann hat Eier. Mit Mitte 30 ist Nenad Mlinarevic in der Spitze der Schweizer Gastronomie angekommen. Gault Millau Koch des Jahres und 18 Punkte. Zwei Michelin Sterne. Das alles als gut bezahlter Chef des Restaurant Focus (zum Bericht), dem gastronomischen Aushängeschild des Luxushotels Park Hotel Vitznau. Vor ein paar Monaten dann rauscht die Nachricht wie ein Orkan durch den Blätterwald: Mlinarevic hört auf in Vitznau. Warum? Weil er einfach mal etwas Neues probieren möchte. Sein eigener Boss sein. Zumindest für eine Weile. Das erste Projekt liess nicht lange auf sich warten. Gemeinsam mit seinen Freunden Valentin Diem (Vale Fritz / Wood Food) und Patrick Schindler (Soi Thai / Wild Bar) stellt er seine Kreationen seit dem 1. Dezember in der Stadthalle in Zürich einem breiteren Publikum vor. Die drei kreativen Köpfe haben den altehrwürdigen Saal, der lange als Autogarage genutzt wurde, nach ihren Vorstellungen eingerichtet und toben sich dort mit dem Pop-Up "Die Stadthalle" noch bis Februar 2018 aus. Normalerweise bin ich kein grosser Freund solcher kurzzeitigen Joint Ventures, da sich die Qualität der einzelnen Protagonisten in so einem Konglomerat in den seltensten Fällen so zeigt, wie sie in Wirklichkeit vorhanden ist. Doch diese drei haben schön ofters bewiesen, dass Qualität bei Ihnen an erster Stelle steht, deshalb bin ich guter Dinge.
Die Location befindet sich ganz in der Nähe des Bahnhofs Selnau. Von aussen deutet nichts darauf hin, dass hier einer der besten Köche des Landes seine Gäste verköstigt. Lediglich ein gut eingepackter junger Herr lässt erahnen, dass sich im Gebäude hinter ihm an diesem kalten Dezemberabend überhaupt etwas tut. Er ist übrigens für den Valet Parkservice zuständig, den Die Stadthalle anbietet. Eine tolle Idee. Auto abgegeben, schon kämpfe ich mich durch mehrere dicke Vorhänge und stehe mitten im riesigen Saal, in dem sich für die verbleibenden knapp sechs Wochen dieses Pop-Ups jeden Abend bis zu 200 Personen tummeln. Mein Tisch liegt direkt gegenüber der Küche, von wo aus ich das muntere Treiben gut beobachten kann. Die Menüauswahl ist angenehm übersichtlich, nur ob man vegetarisch essen möchte oder nicht muss entschieden werden. Ich komme heute in den Genuss beider Menüs. Nach einer kurzen Rücksprache bezüglich einer kleinen, glasweisen Auswahl aus der ausgezeichneten Weinkarte geht's auch schon los.
Zuerst widme ich mich der vegetarischen Menüeröffnung. Edamame, Wildreis, Soja, Sweet Chili, Zwiebel und Koriander ist genau nach meinem Geschmack. Frisch, knackig, angenehm säurebetont und kräuterig. Ausgezeichnet!
Blumenkohl mit Schnittlauch, Eigelb und Bröseln ist aromatisch der Gegenpol zum ersten Teller. Perfekt gegarter, bissfester Blumenkohl, durch das Ei und die Brösel sehr gehaltvoll umspielt, eher zurückhaltend gewürzt, was das Ganze aber nicht weniger schmackhaft macht.
Es geht weiter zu Broccoli mit Ponzu und Miso. Drei Komponenten für ein Hallelujah! Erneut optimal gegartes Gemüse, begleitet von der animierenden Säure der Ponzu (eine Sauce die aus Mirin, Reisessig, Katsuobushi und Seetang besteht), der ebenfalls reichlich Umami innewohnt, wie natürlich auch der blonden Miso. Diese steuert zusätzlich eine willkommene Süsse bei. So simpel und so verdammt gut.
Rosenkohl, Raps, Belper Knolle und Zwiebel gehört in beiden Menüs zur Vorspeisenarmada. Die intensiven, angenehm festen Brüsseler stehen im Mittelpunkt und werden überraschenderweise eher subtil begleitet. Raps, Käse und Zwiebel dürften hier gerne eine etwas grössere Rolle spielen (auch wenn die Optik suggeriert, dass der Kohle regelrecht überlagert wird), damit auch alle Röschen in den Genuss Ihrer aromatischen Begleitung kommen. So wirkt das Ganze etwas gar zahm. Dennoch gut.
Vom omnivoren Menü probiere ich zuerst den Lachs mit Rettich, Ponzu, Algen und Radieschen. Hier zeigt Mlinarevic sein ganzes Können. Der fein geräucherte, dezent fette Fisch ist von hervorragender Qualität, die Mitspieler sorgfältig gewählt. Ohne dass die Zutaten dieselben wären, erinnert es mich sensorisch an ein grandioses Gericht aus dem Focus. Dass die Küche hier fähig ist, ein Zweisterneerlebnis fast Eins zu Eins zu replizieren, zeugt vom grossen Können und der unbändigen Ambition der Crew. Ein Besuch in der Stadthalle lohnt nur schon für dieses Gericht.
Beim Schweinebauch mit Kopfsalat, Pickles, Koriander und Chili ist etwas Handarbeit nach koreanischem Vorbild gefragt um einen leckeren "Ssam" zu basteln. Dieser kleine Wrap ist einfach nur himmlisch. Knackiger Salat, saftiges Fleisch, ein kleines bisschen Schärfe, süss-saure Gurke, fertig ist der Wohlfühl-Happen. Für mich persönlich hätte die die Schärfe der Chili sowie die Säure der Gurke etwas ausgeprägter sein dürfen - eine Meinung die jedoch nicht jeder am Tisch teilt.
Ein Tatar mit Grünkohl, Senf, Speck und Brot beschliesst die Vorspeisen. Ich bin überhaupt kein Tatar-Fan. Was hauptsächlich daran liegt, dass die meisten Versionen eine starke Alkoholnote von billigem Fusel haben und generell gnadenlos überwürzt sind. Vom Fleisch oder sonst einem verwendeten Produkt schmeckt man normalerweise rein gar nichts. Nicht so in der Stadthalle-Version. Das Tatar ist für meinen Geschmack texturell etwas gar fein geraten, was sich aromatisch aber nicht negativ auswirkt, denn die Qualität des Fleisches ist sofort zu erschmecken. Und dank der intelligent gewählten und sorgsam portionierten Mitspieler geht es auch nicht unter. Im Gegenteil, das Tatar profitiert von der feinen Senfnote und der Salzigkeit des Specks. Die verschiedenen Kohle sorgen für etwas Auflockerung. Sehr gut.
In der lebhaften, wuseligen Atmosphäre der Stadthalle, merkt man gar nicht wie schnell die Zeit vergeht. Der ausgezeichnete Pouilly Fuissé im Glas neigt sich gerade dem Ende entgegen, da werden auch schon die Hauptgänge serviert. Ein Kernotto mit Pilzen, Lauch und Grünkohl ist etwas zu sehr vom Lauch dominiert, jedoch insgesamt durchaus gefällig.
Die Tortilla mit Kuhmilch Feta, Peperoni, Tomate und Petersilie weiss durch eine wirklich fantastische Tortilla zu überzeugen, sowie den kräftigen Käse und die wunderbar intensiv abgeschmeckte, leicht "rauchige" Paprikacrème - im Nu verputzt.
Ein veritabler Höhepunkt ist die Topinambur mit Mandeln, fermentiertem Knoblauch und Kräutern. Die Süsse des Korbblütlers ist schön rausgearbeitet, wird vom aromatischen dezenten, aber ebenfalls leicht süsslichen schwarzen Knoblauch weitergezogen, während die Mandel über ihre Nussigkeit die Brücke zurück zur Knolle schlagen. Die mannigfaltigen, grosszügig eingesetzten Kräutern konterkarieren den restlichen Teller und sorgen für wichtige Frische und Abwechslung. Es klingt so simpel, funktioniert aber nur so gut dank der hochpräzisen Austarierung der einzelnen Komponenten.
Als zusätzlichen Gang konnte man heute Abend einen Burrata mit einem Tomaten-Brot-Salat bestellen. Den lasse ich mir natürlich nicht entgehen. Interessanterweise ist es die einzige kulinarische Enttäuschung des Abends. Der Frischkäse ist sehr neutral und vor allem viel zu kalt. Genauso wie der Salat, der wohl eine Abwandlung einer "Panzanella", dieses klassich toskanischen Brotsalates darstellen soll. Die sowieso schon subtilen Aromen aller Komponenten verschwinden komplett in der allgegenwärtigen Kälte. Doch auch als ich mich zum Schluss, nachdem die Schale eine Viertelstunde auf dem Tisch gestanden hat, nochmals dem Inhalt widme, schmeckt es lediglich marginal besser. Schade.
Rind, Pilz, Peperoni und Tomate wirkt im Gegensatz zur bisher vorherrschenden Intensität regelrecht fragil und zurückhaltend. Aber auf eine gute Art. Die Produkte sind für sich genommen ausgezeichnet und auch im Ensemble jederzeit gut ausmachbar. Und das Wichtigste, sie ergeben ein sehr schmackhaftes Ganzes. Kein Highlight wie die erste Tortilla, aber sehr solide.
Die nun folgende Schüssel gefüllt mit Poularde, Broccoli, Sesam, Kräutersalat und Miso erinnert trotz abweichender Zutaten sehr stark an "Laab Gai", den nordthailändischen, gehackten Salat. Herrlich frisch und dabei unheimlich vielschichtig, zeigt dieser Salat für mich fast am eindrücklichsten das hohe Niveau, das hier in der Stadthalle geboten wird. Einerseits fühlt man sich sofort an einen kleinen Tisch in Thailand versetzt, wo man auf einem wackeligen Plastikstuhl sitzend, bei brütender Hitze eine riesige Schüssel dieser Spezialität verdrückt. Andererseits würde sich aufgrund der gebotenen Qualität auch in einem Mitteleuropäischen Sternerestaurant niemand über dieses faszinierende Gericht beschweren. Würde es mein Hunger noch zulassen, wäre ein Nachschlag Pflicht.
Den Abschluss der Hauptgänge machen Randen mit Crème fraîche, Forelle und Meerrettich. Dieses Gericht knüpft nahtlos an die Grossartigkeit des vorherigen Gangs an. Perfekt gegarte Randen, wachsweich, aber dennoch mit einem letzten bisschen Biss, versprühen ihre typisch erdig-warme, leicht süssliche Note. Als kühler Gegenpol fungiert die reichhaltige Crème fraîche, deren Frische durch den Meerrettich zusätzlich hervorgehoben wird. Die grosszügige Menge von Forellenrogen bringt etwas Crunch ins Spiel sowie eine willkommene Salinität und rundet das Gericht klasse ab. Hervorragend!
SPOILER ALERT: Wer noch plant in Die Stadthalle einzukehren und sich überraschen lassen möchte, sollte hier nicht weiterlessen.
Bevor das Dessert serviert wird, ist die Mithilfe der Gäste gefragt. Der Tisch muss kurz abgeräumt werden, um danach mit einer Plastikfolie überzogen zu werden. Fix alle Gläser und das Besteck wieder aufgetischt und schon wird das Dessert serviert. Auf dem Menü ominös als Tischbombe angekündigt, zeigt sich hier die spielerische Seite der Küche. Ein riesige Schokoladenkugel wird vom Service präsentiert und dann einfach auf den Tisch fallen gelassen. Essbar ist alles davon und die einzelnen Komponenten sollen erraten werden. Ein Sammelsurium von Aromen und Texturen - Mandarinensorbet, Erdnussbutter, gefriergetrocknete Früchte und Joghurt, Meringue, Cheesecake Mousse, Magenbrot - macht dieses Dessert zu einem äusserst befriedigenden und spassigen Abschluss eines exzellenten Dinners. Eine gelungene Überraschung.
Die drei Freunde Nenad Mlinarevic, Patrick Schindler und Valentin Diem haben mit Die Stadthalle ein wirkliches tolles Konzept auf die Beine gestellt. Die Atmosphäre ist ausgelassen, der Service locker, die Weinkarte gut bestückt. Und das Wichtigste, das Essen überzeugt. Die Vorspeisen fallen etwas stärker und spannender aus als die Hauptspeisen, doch der Gesamteindruck stimmt. Die Stadthalle zeigt auch, was sich in Zürich in letzter Zeit in Sachen Gastronomie getan hat. Noch vor drei, vier Jahren, wäre so ein Konzept in der Stadt wohl baden gegangen. Bei allem Mut und der Erfahrung die man benötigt, um solch eine Idee optimal umzusetzen, ist es wohl nicht weiter verwunderlich, dass zwei der Pioniere der hiesigen Pop-Up Szene gemeinsam mit Nenad Mlinarevic das bisher beste temporäre Restaurant auf Zürcher Boden geschaffen haben. Ich bin bereits sehr gespannt, ob es zu einem weiteren Projekt kommen wird.
Wer noch in den Genuss von Mlinarevics Essen in Zürich kommen möchte, muss sich sputen. Bereits am 3. Februar schliesst Die Stadthalle ihre Tore wieder. Also schnell reservieren, es lohnt sich.
Die Stadthalle
Morgartenstrasse 5
8004 Zürich
Schweiz
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