Restaurant Sein (Thorsten Bender) - Karlsruhe

Der Sterneeremit
Was lange währt, wird endlich gut. So zumindest meine Hoffnung, als ich mich auf den Weg nach Karlsruhe mache. Seit mehreren Jahren bin ich mit Chef Thorsten Bender in Kontakt, lange bevor er in seinem Restaurant Sein den zweiten Stern erkochte. Geklappt hat es mit einem Besuch bislang allerdings nie.
Der zweite Stern ist dennoch ein gutes Stichwort. Schliesslich hat sich Bender 2023 in die Geschichtsbücher der Stadt eingetragen, als er mit seinem Restaurant Sein erstmals zwei Michelinsterne nach Karlsruhe holte. Damit hält er aktuell auch die einzigen beiden Macarons in einer Stadt, die immerhin mehr als 300’000 Einwohner zählt.
Der gut 20-minütige Spaziergang von meinem Hotel zum Restaurant zeigt einen fast menschenleeren, etwas verschlafen wirkenden Ort. Es ist grau und kalt, der nahende Winter lässt nur noch die Kinder auf den Spielplätzen draussen ausharren. Genau das richtige Wetter, um es sich in einem Restaurant richtig gemütlich zu machen.
Das Sein liegt in einer ruhigen Wohnstrasse und sticht mit seinen eleganten dunkelgrauen Markisen und dem deckenhohen Fenster mit direktem Blick ins Restaurant unübersehbar hervor. Als ich ankomme, ist eine kleine Gesellschaft bereits beim Apéro, aber alles sehr gesittet und ruhig. Wie die Stadt selbst. Das soll sich zum Glück im Verlauf des Abends noch ändern.
Das Interieur ist zwar nüchtern, verströmt aber dennoch eine gewisse Wärme. Genau wie der Service, der lediglich zu zweit agiert. In der Küche arbeiten ebenfalls nur zwei Personen, inklusive Küchenchef und Inhaber Bender. Eine Kleinstoperation, die in familiärer Atmosphäre maximal 16 Gäste bewirtet. Deshalb wird man auf der Webseite auch diskret darauf hingewiesen, dass man für ein Abendessen im Sein genügend Zeit mitbringen soll. Mindestens vier Stunden sind einzuplanen. Durch diese kleine, auf den ersten Blick unwichtige Information, setzt das Restaurant bereits den Ton für den Abend. Darum sitze ich erstmal in aller gebotenen Gemütlichkeit einfach da, am Tisch neben der Bar (siehe Titelbild). Ich beobachte, wie sich das intime Restaurant langsam füllt, der Lautstärkepegel steigt, der Champagner fliesst. So muss es sein. Dann werden die Hors d’Oeuvre serviert.
Los geht’s mit Fingerfood. Links ein Macaron mit Gänseleber, Feta, grünem Apfel und Meerrettich. Enorm fein gearbeitet, das Macaron wunderbar leicht, die ungewöhnlich anmutende Kombination (was macht der Feta hier nur?) passt dank exzellenter Proportionen und punktgenau justierter Schärfe des Meerrettichs hervorragend. Überraschend sanft und harmonisch.
Rechts dagegen bietet die Tartelette mit Marone, Miso und australischem Wintertrüffel eine volle Ladung Umami. Trotz der ausladenden Aromen, inklusive prägnanter Süsse, zeigt sich auch dieser Happen überraschend leichtfüssig.
Auch die nächsten Petitessen werden unkompliziert von Hand gegessen. Die Croquetas mit geräucherter Roter Bete und Sainte-Maure – einem mild-würzigen Ziegenkäse aus dem Loiretal – bieten knusprig-herzhaften Knabberspass.
Auf der anderen Seite wagt sich Bender an eine Interpretation des japanischen Streetfood-Klassikers Takoyaki, den er mit Räucheraal und Umai Heritage Osietra Kaviar serviert. Geradezu luftig präsentiert sich das ansonsten gerne auch mal ziemlich handfeste Teigbällchen, das durch den geräucherten Aal eine gewisse Deftigkeit bekommt, während der sanft-jodige Kaviar die maritimen Ursprünge des Snacks betont.
Vier sehr abwechslungsreiche Petitessen, die vor allem die handwerkliche Akkuratesse eint. Ein äusserst verheissungsvoller Auftakt, der Erwartungen auf ein hoffentlich ebenso grossartiges Menü schürt.
Das hohe Niveau setzt sich mit einer pochierten Auster nahtlos fort. Die Molluske des mir bisher unbekannten Produzenten Pléiade Poget aus der Normandie wird von einer fermentierten Spargel-Vinaigrette, Korianderöl, Austernwasserperlen und Umai Reserve Kaviar eingefasst. Dank der überschaubaren Grösse und der nicht sehr dichten Struktur lässt sich die Auster problemlos in einem Bissen mit allen Beilagen geniessen. Eine frische Meeresbrise mit salzig-jodigen Anklängen mischt sich mit punktgenau dosierten Bitternoten und einem Hauch zitrisch-blumiger Frische zu einem superben Gericht.
Nach dem überzeugenden Auftakt folgt mit Fjord Shrimps Ceviche, gepickelter Gurke, Gurken-Holundersud und Jalapeño-Öl der erste offizielle Gang des Menüs. Wer bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Sein angekommen ist, wird spätestens durch die Schärfe der grünen Chili ins Hier und Jetzt geholt. Mannomann, das hat einen richtigen Knalleffekt. Ich liebe es, wenn Köche den Mut haben, sich bezüglich Schärfe so richtig auszuleben. Naturgemäss bringen solche Mengen an Scoville die Balance in Schieflage, die Shrimps bleiben dadurch ein wenig im Hintergrund. Allerdings ist das verschmerzbar, da der Fokus klar auf Frische und einem Wachauf-Moment liegt. Sicher nicht jedermanns Sache, aber mir gefällt es sehr gut.
Dass Bender gerne Grenzen auslotet, zeigt auch das Sashimi vom Thunfischbauch mit Birnen-Senf-Ragout, Gänselebereis, Süssweingelee und Ponzu mit Trüffeln. Eigentlich würde die auf dem Papier übermässig wild anmutende Kombination gut funktionieren. Allerdings wird die Umamiwürze hier so stark betont, dass sie schliesslich übers Ziel hinausschiesst. Der überraschend fettarme Thunfisch hat der herzhaft-salzigen Wucht kaum etwas entgegenzusetzen. Auch das exzellente Eis (mittlerweile eine richtige Rarität) vermag nicht genügend Gegengewicht zu geben. Hier wäre weniger definitiv mehr.
Harmonie verströmt hingegen der sanft gegarte Färöer Kaisergranat mit einer Deklination vom Kürbis (Kürbis-Ingwerpüree, geröstete Kürbiskerne, Kürbiskernöl, Kürbis-Sanddornsauce). Trotz vermeintlich plakativer Aromen werden potenzielle Stolperfallen gekonnt umschifft: Ingwer zügelt die Kürbissüsse, der Kürbis wiederum die strenge Säure des Sanddorns. Dessen pointierte Fruchtigkeit passt indessen hervorragend zur maritimen Süsse vom Kaisergranat. Lustigerweise erzeugt dieses Zusammenspiel bei mir ein karibisch anmutendes Gefühl, was hier eigentlich so gar nicht hingehört. Für Abrundung ist die nussige Würze des Öls zuständig, während die Kerne gekonnt die Brücke zurück zum Krebs schlagen. Schlüssig komponiert, konsequent umgesetzt.
Eine stattliche Jakobsmuschel aus Norwegen wird kräftig angebraten und mit Kalbsragout, Buddhas Hand, Tafelspitzbrühe, Liebstöckel sowie Umai Heritage Osietra Kaviar kombiniert. Ähnlich wie beim Thunfisch zuvor, ist auch dieser Gang stark auf Umami getrimmt. Allerdings wird hier nicht jedes Würzelement bis zum Letzten ausgereizt. Dadurch bleibt die notwendige Raffinesse erhalten und man kann die Komplexität dieser gelungenen Komposition auch wirklich in seiner Gesamtheit erfassen. Man bewegt sich dennoch in molligen, zugänglichen Gefilden, was dazu führt, dass man einfach beherzt mit dem Löffel nach unten durchstechen und sich einlullen lassen will. Geprägt wird das Gericht durch eine pointierte Nussigkeit, die sich durch fast jedes Element zieht. Besonders die Erdnüsse, die im Rahmen eines fein austarierten Gerichts oftmals zu plakativ wirken, erweisen sich als absoluter Volltreffer, die dem Ganzen einen ebenso markanten wie passenden Anstrich verleihen. Wenn die Buddhas Hand etwas stärker betont werden würde, könnte das den Spannungsbogen noch steigern, doch in Summe ist das ein im positivsten Sinne gefälliger Teller mit reichlich Tiefgang.
Weiter geht’s mit Saibling aus kalten Gewässern um Island, der per Ikejime getötet wurde, um die bestmögliche Qualität zu gewährleisten. Das lachsrosa Fleisch landet sanft konfiert auf dem Teller. Ochsenmark, gebrannter Lauch, Lauchasche und weisser Alba-Trüffel sowie ein buttrige Verjussauce umgarnen den Fisch. Der verheissungsvolle Duft, der mir in die Nase steigt, bestätigt sich beim ersten Bissen nicht nur, sondern offenbart noch mehr. Viel mehr. Trotz kräftiger Aromen liegt der Fokus klar auf dem herausragenden Fisch. Eine perfekt dosierte Süsse betont dessen zart-liebliches Fleisch. Das Ochsenmark legt einen feinen Fettfilm über die Lippen, der alle Elemente akzentuiert. Während der Lauch einen appetitlichen Lagerfeuerduft einstreut, setzt der Trüffel den betörenden Schlussakzent. Er fungiert nicht als plumpes Luxusprodukt, das sinnlos eingestreut wird, um Hochklassigkeit zu suggerieren. Im Gegenteil besticht er vor allem durch sein unverwechselbares Aroma mit zart-animalischen Moschusanklängen, knoblauch-würziger Walderde und sorgt dadurch für eine enorme Vielschichtigkeit. Ein in allen Belangen grossartiger Gang, der kaum zu toppen sein dürfte.
Geradezu klassisch französisch fällt der Hauptgang aus: gegrillte Entenbrust, eingelegte Cranberries, marinierter Chicorée, Sauce Bigarade (der französische Begriff für eine bittersüsse Orangensauce, die ursprünglich mit Bitterorange zubereitet wurde) und weisser Pfefferschaum. Letzterer kann schnell penetrant werden, doch Bender dosiert einmal mehr punktgenau, sodass er lediglich eine subtile Pikanz einbringt. Gemeinsam mit der fruchtsäuerlichen Frische der Beeren und den knackigen Bitternoten des Chicorées entsteht eine vortreffliche Unterlage für die hervorragende Ente. Diese stammt vom renommierten Produzenten Burgaud aus Challans, der für seine Blutenten berühmt ist. So ein makelloses Produkt mit reichlich Eigencharakter bekommt man nicht alle Tage serviert. Beinahe wild in ihrer Intensität und Kernigkeit, butterzart und einfach nur köstlich.
Gestockte Mandelmilch, Pistazien-Baiser, Mangochutney, Kokos-Vanille-Sud und Passionsfruchtsorbet leitet in den süssen Teil des Abends über. Nach einem ziemlich muskelbepackten und die Papillen fordernden herzhaften Menüteil ist dies nun genau das Richtige. Eine Art Wackelpudding mit angenehm zurückhaltender Süsse, dazu die saftige Frische und ausladende Fruchtigkeit. In Summe genau die richtige Mischung aus erfrischender Straffheit und exotischer Opulenz.
Beim letzten Dessert will es die Küche nochmals wissen. Mousse von weisser Schokolade, Macadamia-Eis, gebrannte Macadamia, Rotkohlchutney, karamellisierter Rotkohlsud und Rotkohlchip. Rotkohl in Desserts kann natürlich gut funktionieren. Allerdings wird es heikel, wenn dieser Kohlmuff nicht komplett verschwunden ist. Hier gelingt das weitgehend gut. Die inhärente Fruchtigkeit und Nussigkeit des Kohls wurde geschickt herausgearbeitet, wodurch die sehr pointierte Süsse der Schokolade zumindest teilweise abgefedert wird. Schlussendlich ist das (glücklicherweise) nicht ganz so kantig, wie man befürchten könnte. Allerdings taugt es (leider) auch nur bedingt für kulinarische Höhenflüge.
Wie gut, dass der Ausklang famos gerät: Eiskonfekt, Choux au Chocolat, Panna Cotta mit Apfel und Sternanis, Zwetschge und brauner Butter. Hier zeigen Bender und sein Souschef nochmals, was in ihnen steckt.
Es ist nun kurz nach Mitternacht. Nach fast sechs Stunden im Restaurant bin ich ziemlich platt. Für einen Spaziergang zurück ins Hotel reicht die Kraft jetzt nicht mehr. Während ich draussen auf das Taxi warte, mischt sich in meine Müdigkeit die wohltuende Gewissheit, dass sich das ungeplant lange Warten auf den Besuch bei Thorsten Bender im Restaurant Sein gelohnt hat. Denn was lange währt, wird endlich gut.
Die Weinbegleitung:
2024 Albariño de Fefinanes, Bodegas del Palacio de Fefinanes, Rias Baixas
2016 Riesling Alte Reben Saar, Markus Molitor, Mosel
2012 Riesling “Clos Häuserer”, Domaine Zind-Humbrecht, Elsass
2021 Mandolas Furmint, Tokaj Oremus, Ungarn
2022 Chablis 1er Cru La Fourchaume, Domaine de l'Enclos, Burgund
2014 Cabernet Sauvignon Vigna San Francesco, Tenuta Regaleali, Sizilien
2022 Apasionado de José Pariente Dulce, Bodegas José Pariente, Rueda
2009 Rivesaltes Ambré Château Chez Jau, Languedoc-Roussillon
Restaurant Sein
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Titelbild © Felix Zeiffer / restaurant sein




